Mission Rentier

Mission Rentier

Rentier

Mission Rentier

Weihnachtsspecial aus dem Zyklus »Das Buch der Welten«

Erster Teil der dreiteiligen freien Kurzgeschichte.
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Es war kalt und das war auch gut so. Mareike konnte es nicht leiden, wenn es am Heiligen Abend nach Frühling roch. Weihnachten musste kalt sein, der Schnee unter den Füßen knirschen und die Weihnachtsbeleuchtung sollte ihr warmes Licht in der Dunkelheit verbreiten. Sie stand vor einer Schaufensterscheibe und betrachtete ihre rote Nase nachdenklich. Dann zog sie einen Lippenstift heraus und färbte sie ein wenig nach. Sie rückte ihr aufgesetztes Geweih zurecht und zog ihre Stoffohren gerade. So sah sie doch schon wieder wie ein ordentliches Rentier aus.

Sie hob ihren großen Jutesack vom Boden auf. Er war längst nicht mehr so schwer wie zu Beginn ihrer Reise, aber noch war er nicht leer.

»Bevor er nicht leer ist, werde ich nicht nach Hause gehen«, murmelte sie, aber es klang eher wie eine Durchhalteparole. Ihr war kalt und es waren nicht viele Menschen unterwegs. Manche fuhren eilig mit Fahrzeugen vorbei, aber zumeist waren die Straßen völlig leer. Eine wundersame Stille herrschte. Drinnen in den warmen Räumen feierten die Menschen mit ihrer Familie. Manche stritten vielleicht auch oder waren gelangweilt. Mareike hatte niemanden, mit dem sie feiern konnte. Sicher, da gab es den Großonkel, der sie mehrfach eingeladen hatte, aber ihn konnte sie nicht leiden. Beim letzten Gottesdienst hatte eine Frau Mareike angesprochen und gefragt, ob sie nicht zu einer Feier der Kirchengemeinde kommen wolle, doch Mareike hatte abgelehnt. Die Kirchengemeinde fühlte sich seltsam an. Sicher, Mareike war freiwillig in einige Gottesdienste gekommen und hatte sich angehört, was man dort erzählte, aber irgendetwas daran war ihr immer noch seltsam vorgekommen.

Früher hatte Mareike eine Weile lang mit einer älteren Nachbarin Weihnachten gefeiert, die sonst auch niemanden hatte, doch die war vor zwei Jahren gestorben. Also war Mareike am Heiligen Abend einfach allein geblieben, hatte von ihrem Balkon aus auf die stille Stadt hinabgeblickt und nachgedacht. Später hatte sie den Fernseher eingeschaltet, eine Weile einen Actionfilm angesehen, der an Weihnachten spielte, aber hatte dann abgeschaltet und war einfach ins Bett gegangen und hatte sich seltsam gefühlt.

»Ja, ja, ich gebe schon eine rührselige Geschichte ab«, murmelte Mareike zu sich selbst. Ihr war aber gar nicht danach, irgendwelches Mitleid zu erwecken. Für so etwas wollte sie nicht herhalten. Deshalb hatte sie auch nachgedacht. Was sollte man am Heiligen Abend tun, wenn man keine Verpflichtungen hatte? Keine Familie, die darauf bestand, dass man mit ihr feierte? Kein Mann, keine Kinder, keine Eltern? Es war eine Situation, die kaum jemand so kannte.

Die meisten Menschen hatten am Heiligen Abend viel zu viele Verpflichtungen. Mareike hatte es gehört. Viele Menschen hatten rund um Weihnachten einen straffen Zeitplan. Sie eilten von Feier zu Feier, trafen sich mit verschiedenen Familienangehörigen, bemühten sich, dass niemand eifersüchtig wurde, und empfanden alles als stressig und anstrengend. Doch es gab auch andere Menschen. Solche, die das Fest nicht bei ihrer Familie verbringen konnten, weil sie arbeiten mussten oder sich weit weg von ihr auf Reisen befanden.

Mareike fühlte eine gewisse Zuneigung zu diesen Menschen. Es verband sie eine Gemeinsamkeit. Der U-Bahn-Fahrer, der Polizist, der Feuerwehrmann, der Kassierer in der Tankstelle, der Sprecher im Radio, der Techniker im Kraftwerk, der Taxifahrer, die Krankenschwester. Es gab eine kleine Minderheit an Menschen, die kein Weihnachten feiern konnten, weil sie dafür sorgten, dass wichtige Dinge funktionierten und die anderen Menschen bei ihren Familien sein konnten. An keinem Tag des Jahres wurde diese Aufteilung so deutlich wie an Weihnachten.

Der Atem kondensierte. Mareike blickte die Straße entlang. Eigentlich hätte demnächst ein Bus kommen sollen, aber noch war nichts zu sehen. Sie hatte sich eine Route durch die Stadt überlegt. Es fuhren nur wenige Linien des öffentlichen Nahverkehrs, aber sie wollte ohnehin möglichst viele verschiedene Menschen treffen und hatte deshalb beschlossen, ihr Verkehrsmittel häufig zu wechseln. Einzelne Stücke ging sie immer wieder zu Fuß. Mehrmals hatte sie Taxis genommen und mehrmals hatte sie Bahnen und Busse genutzt. Sie wäre auch per Anhalter gefahren, aber leider erwies sich dies als sehr schwierig. Die wenigen Autos, die vorbeikamen, schienen mit Menschen besetzt zu sein, die in Eile waren. Vielleicht waren Menschen an Weihnachten skeptisch gegenüber Anhaltern. Angeblich gab es mehr Banküberfälle zu Weihnachten. Menschen fühlten sich in der Pflicht, teure Geschenke zu machen, und hatten sie nicht genügend Geld, versuchten sie mit allen Mitteln, an welches zu kommen. Aus der Freude am Schenken wurde eine Pflicht, die dazu verleitete, sich auf dunkle Pfade zu begeben.

Mareike musste niemandem etwas schenken. Keiner erwartete etwas von ihr. Aber sie hatte sich entschieden, freiwillig etwas zu schenken, an die Menschen, denen sie sich heute am nähesten fühlte.

Der Haltestellenpfosten, an dem die Anzeigen und Schilder befestigt waren, sah auf das Wesen hinab, das neben ihm stand. Er runzelte etwas, das wohl einer Stirn entsprach. Was auch immer dort neben ihm stand, es war kein normaler Mensch. Dem Pfosten war die Sache nicht geheuer. Man musste sich in Acht nehmen. Wenn es eines von diesen Tieren war, dann konnte es plötzlich lospinkeln. Das war zwar warm, aber auch unangenehm, denn bei solchen Temperaturen fror das Pipi dann fest und es ätzte auf Dauer auch das Metall durch, aus dem der Pfosten bestand. Eine echte Gesundheitsgefahr. Selbst Menschen neigten mitunter dazu, sich zu derlei Tätigkeiten hinreißen zu lassen. Doch dieses Wesen dort war nichts, was der Pfosten kannte. Es hatte irgendwelche Hörner auf dem Kopf, seltsame große Ohren und eine rote Nase, aber es ging auf zwei Beinen.

Hilflos sah der Pfosten in der Gegend umher. Hier war sonst niemand. Es kamen auch keine Busse. Dies war ein ziemlich dröger Abend. Wäre da nicht dieses gehörnte Wesen, er wäre einfach eingeschlafen. Man sah ihm das von außen kaum an. Er schlief grundsätzlich immer im Stehen und legte sich dazu nur sehr selten hin. Eigentlich nur, wenn er wirklich extrem müde war.

Der 19er-Bus wollte einfach nicht kommen. Vielleicht hatte der Fahrer keine Lust mehr gehabt und war einfach nach Hause zu seiner Familie gefahren. Es schien außer Mareike ohnehin keine Fahrgäste zu geben. Es war 21 Uhr 19. In roten Punkten erschien diese Uhrzeit an der Hausfassade, abwechselnd mit der Temperatur. Es war –6 °C kalt, aber Mareike kam es kälter vor. Die Reste der Schneeschauer der letzten Tage bedeckten die Dächer und einen Großteil der Wege. Auf den Straßen hatten die zahlreichen Autos der letzten Tage das Schwarz des Asphalts wieder ausgegraben. Kurz vor Weihnachten herrschte immer reger Verkehr in den Innenstädten und vor den Einkaufszentren. Alle versuchten noch schnell, ihre Geschenke zu finden. Etwas Ausgefallenes, Einzigartiges und vor allem Persönliches, das von Herzen kam und derjenige noch nicht hatte und nicht kannte, aber sehr gut gebrauchen konnte und das viel Freude mit sich brachte. Genau so etwas suchten alle Menschen und sie hofften, dass sie darauf zufällig in irgendeinem Laden stoßen würden. Wie dieses magische, ganz persönliche Ding aber genau aussehen sollte, wussten weder die Menschen noch die Läden. Das Unterfangen der schenkenden Menschen war deshalb nur selten von großem Erfolg gekrönt.

Mareike seufzte, zog ein Stück Papier heraus, auf dem sie sich die Route notiert hatte, und beschloss, den nächsten Abschnitt einfach zu Fuß zurückzulegen. Ihr Plan war ohnehin nicht wirklich aufgegangen. Mit Ladenschluss hatten sich die überfüllten Wege und Straßen schlagartig geleert. Zurückgeblieben waren zertrampelter Schnee und ein Haufen Müll. Jetzt wirkte die Stadt wie ausgestorben. So als hätten alle Menschen sie fluchtartig verlassen. Eine Evakuierung kurz vor dem Weihnachtsfest.

»Das ist gar nicht mal so falsch, dieser Vergleich«, murmelte sie. Ihre Stimme zitterte dabei leicht. »So wie die Leute in den Geschäften Lebensmittel gehamstert haben, hätte man wirklich meinen können, dass irgendeine Katastrophe droht.«

Die Geschäfte waren für mehrere Tage geschlossen und dann kam erst einmal die große Umtauschaktion. Vermutlich war es wirklich eine gute Idee, sich einfach zu Hause einzuigeln, zusammen mit einem großen Vorrat, und das Weihnachtsfest dort an sich vorüberziehen zu lassen. Die Feiertage hatten also tatsächlich etwas mit einem Hurrikan gemeinsam.

Als der Zettel von Mareike zurück in die Tasche gesteckt wurde, kam er am Handy vorbei und streckte ihm die Zunge heraus. Das doofe elektrische Ding konnte angeblich alles, aber Mareike nahm immer noch lieber ihn, den Zettel. Das Handy reagierte auf diese Beleidigung allerdings überhaupt nicht und das machte den Zettel fuchsig. Endlich einmal war ein Zettel einem Handy vorgezogen worden und dann ignorierte das doofe Ding diesen Umstand so einfach. Der Zettel schmollte.

Der Pfosten sah immer noch skeptisch auf das gehörnte Wesen, aber gewann langsam an Zuversicht, dass keine Pipiattacke mehr erfolgen würde. Es trug einen großen Beutel bei sich. Zunächst war sich der Pfosten unsicher, ob der Beutel an dem Wesen angewachsen war, aber dann wurde deutlich, dass dies nur eines von diesen Gepäckstücken war, die auch Menschen mit sich herumschleppten. Besonders übergewichtige ältere Herren mit langen weißen Bärten, die ein Faible für Rot hatten, trugen solche Beutel in letzter Zeit häufiger. Das hatte der Pfosten bei seinen Beobachtungen herausgefunden. Das Beobachten von Menschen und deren Verhalten war eines seiner Hobbys. Er hätte nur zu gerne gewusst, was sich in diesen Beuteln befand, aber leider konnte er nur selten hineinblicken. Doch diesmal fühlte er irgendeine Form von Präsenz. Etwas Besonderes war dort drinnen. Es war deutlich zu spüren. Es hatte irgendeine wichtige Bedeutung. Es war inspirierend. Man fühlte sich lebendiger in seiner Nähe und konnte plötzlich über sich selbst nachdenken. Der Pfosten stellte dies mit einem Mal völlig überrascht fest. Wann hatte er das letzte Mal über sich selbst nachgedacht? Er konnte sich nicht erinnern. Hatte er überhaupt schon einmal so bewusst nachgedacht? Es war, als wäre er aus einem langen Traum aufgewacht. Er war befreit worden. Sein Verstand war entfesselt. Er war sich selbst bewusst geworden. Wahnsinn! Er war ein Pfosten. Sein Glück kannte keine Grenzen.

Mareike sah sich um. Sie konnte keine Autos und keinen 19er-Bus sehen. Er hatte wohl auch die Flucht ergriffen. Auf und davon, bevor der Hurrikan namens Weihnachten hereinbrach. Mareike überlegte, wie weit es von hier direkt nach Hause wäre. Müsste sie ab jetzt zu Fuß gehen, wäre sie sicherlich eine Stunde oder länger unterwegs. Jetzt noch jemanden anzurufen und zu bitten, sie abzuholen, war ausgeschlossen. Sie hatte keine nahe Verwandtschaft und keine so engen Freunde. Lose Bekanntschaften holte man an Weihnachten nicht von ihrer Familie weg. Vor allem nicht, wenn man ihnen erklären müsste, was man so spät abends noch in einem Rentierkostüm mit einem Sack voll Geschenken hier draußen in der Stadt suchte.

Das Rentier im Schaufenster traute seinen Augen nicht. Gerade hatte es sich noch schlaftrunken gefühlt, doch jetzt war es hellwach. War dort draußen ein Artgenosse? Er sah ein wenig merkwürdig aus, aber eindeutig weiblich und hatte ein Geweih. Das Rentier im Schaufenster konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal ein Weibchen gesehen hatte. Wie sahen die noch mal genau aus? Und gingen die alle auf zwei Beinen? Dieses hier tat es eindeutig. Es ging einfach so auf seinen Hinterläufen. Doch wo wollte es denn hin? Es entfernte sich immer weiter. Das Rentier sah ihm traurig nach und wurde auf einmal wieder so müde.

In der Ferne sah Mareike eine Gestalt, die direkt auf sie zukam. Sie ging mit schnellen Schritten und trug eine Tüte. Mareike blieb einfach stehen und begann in ihrem Sack zu kramen. Sie überlegte, welches Geschenk diesen Menschen wohl am meisten erfreuen könnte. Sie wusste ja, was sie eingepackt hatte. Wenn sie die Dinge in die Hand nahm, konnte sie die Sachen meist wiedererkennen. Natürlich war es schwierig zu erraten, womit man diesem Menschen eine Freude machen konnte. Einfach zufällig etwas herauszugreifen war deshalb genauso vielversprechend. Doch selbst dann verspürte Mareike den Wunsch zu wissen, was der Mann erhalten würde. Sie griff sich zufällig eines der Geschenke und hielt verwundert inne. Es war kompakt, so schwer wie ein Päckchen Mehl, aber viel fester. Mareike konnte sich nicht erinnern, so etwas verpackt zu haben. Der Mann war nun fast heran und hatte einen sehr schnellen Schritt. Mareike ließ das seltsame Ding los und nahm sich etwas anderes. Sie zog es heraus und hielt es freudig dem Mann entgegen.

»Frohe Weihnachten! Hier bitte …«, sagte sie. Weiter kam sie nicht, denn der Mann hetzte blindlings an ihr vorbei.

»He! Ihr Geschenk!«, rief ihm Mareike hinterher. Doch der Fremde machte nur eine abwehrende Geste mit der Hand, ohne etwas zu sagen oder sich umzudrehen, und eilte weiter.

Verrückte! Nur Verrückte! Das Weihnachtsfest machte die Menschen wahnsinnig. Sie drehten völlig durch. Weihnachtswahnsinn hatte er das einmal genannt und ein Buch darüber geschrieben. Ein Haufen seiner Patienten kämpfte mit den Symptomen. Eine völlig übersteigerte Erwartungshaltung. Weihnachten muss das perfekte Glück sein. Das war meist nicht zu machen und eine völlig übertriebene Erwartung. So zerbrachen viele Menschen an dem Zwiespalt zwischen Wollen und Können. Eigentlich hätte er sich freuen sollen. Immerhin bescherte es ihm einen regen Strom an Kunden, doch er empfand es nur noch als frustrierend. Wie sollte er Menschen helfen, wenn nicht sie das Problem waren, sondern die Welt, in der sie lebten? Genau genommen war keiner von denen, die zu ihm kamen, verrückt. Sie hatten ganz natürliche Schwierigkeiten, sich in der verkorksten Welt zurechtzufinden. Doch die Welt für verrückt zu erklären und sie statt seiner Patienten zu heilen stand ihm nicht zu. Die Welt hatte schließlich keine Krankenversicherung. Wie sollte er da eine Therapie abrechnen?

Mareike stieß einen frustrierten Seufzer aus. Jetzt gerade fand sie es zu kalt. Sie war verärgert über die Menschen, die nicht da waren. Sie war verärgert über diesen Menschen, der kein Geschenk annahm. Sie war ungehalten über den Bus, der nicht erschien. Und sie war sich selbst beleidigt, weil sie diesen komischen Plan gehabt hatte.

Der Sack nahm befremdet zur Kenntnis, dass etwas in ihn zurückgestopft wurde. Das Gefühl, dass jemand einfach so in einen hineingriff, war schon merkwürdig genug, aber wenn erst etwas herausgeholt und dann gleich wieder lieblos hineingestopft wurde, wirkte dies wie willkürliche Schikane.

Mareike stöhnte laut auf, um ihrem Ärger Luft zu machen. Dabei hatte alles recht vielversprechend begonnen. Am Anfang hatte sie noch einige Menschen getroffen. Sie war ohne Probleme viele ihrer Geschenke losgeworden. Die meisten hatten sich gefreut. Als sie am Nachmittag gestartet war, hatte es gerade gedämmert. Viele Menschen waren auf dem Weg zu ihren Familien. Einige Geschäfte hatten noch geöffnet gehabt. Überall waren noch genügend Menschen unterwegs gewesen. Doch seit einer Weile wurde es immer einsamer.

Es half nichts, sie musste weiter. Hier zu bleiben und sich zu ärgern war keine Option. Irgendwann heute Nacht würde sie es wieder nach Hause schaffen. Sie wäre durchgefroren, würde ein heißes Bad nehmen und wäre dankbar darum. Hätte sie die Mission Rentier nicht unternommen, säße sie jetzt schon in der Badewanne. So verlockend dieser Gedanke auch war, so sehr wusste Mareike doch, dass sie sich dann noch viel mehr ärgern würde.

Eine frustrierte Mareike saß in der Badewanne. Nackt, durchweicht und ihr war viel zu warm. Neben ihr eine Flasche Rotwein, die zur Hälfte geleert war. Sie hatte alles getan, was ihr einfiel und Freude brachte, und trotzdem fühlte sie sich leer. Was sollte man alleine an einem Heiligabend tun? Wäre sie doch nur als Rentier losgezogen!

»Das ist so dumm!«, fluchte sie. »Es ist ein Abend wie jeder andere. Wäre da nicht dieses Wissen über die Menschen dort draußen, gäbe es nicht diese Überlagerung mit gefühlstriefender Bedeutung, es wäre einfach nur ein beliebiger Abend.«

Sie wusste nicht, ob die Nachbarn sie durch die Lüftung hören konnten. Von dort drang leises Stimmengewirr zu ihr durch. Irgendwo lief Weihnachtsmusik. Vermutlich sogar in mehreren Nachbarwohnungen. Die sanften Melodien mischten sich auf ihrem Weg durch den Lüftungsschacht zu einer bittersüßen Kakofonie des Grauens.

»Aber da bin ich nicht!«, widersprach Mareike mit fester Stimme. Sie war auf der Straße. Ihr war kalt und auch hier fühlte sie sich allein und verloren. Aber immerhin hatte sie etwas getan. Sie war auf einer Mission und saß nicht voll Selbstmitleid daheim.

Aus einer Seitenstraße hörte sie plötzlich lautes Lachen. Es waren mehrere Menschen, die miteinander scherzten. Sie wirkten etwas aufgedreht. Mareike machte sich auf den Weg dorthin. Sie folgte dem Geräusch der Stimmen und beeilte sich. Sie wollte unbedingt einige Geschenke loswerden. Nur nicht mit vollem Sack nach Hause gehen!

Als sie in die Seitenstraße kam, sah sie zuerst nicht, woher die Stimmen kamen. Sie klangen jetzt auch schon viel weiter weg. Endlich entdeckte sie die kleine Gruppe Menschen. Mareike legte einen kurzen Spurt ein. Es waren fünf Personen jüngeren Alters. Ein paar von ihnen Jungs, ein paar Mädchen. Sie scherzten und zogen sich gegenseitig auf.

»Hallo!«, sagte Mareike, als sie heran war. Ihre Stimme klang kraftlos und sie musste nach Luft ringen. Die Gruppe hielt inne, sah sie für einen Moment verblüfft an, aber musste dann lachen.

»Ich habe Geschenke für euch, wenn ihr kurz …«, gab sie keuchend von sich. Die Euphorie war ihr deutlich anzumerken.

»Ne, lass stecken!«, wehrte einer der Jungs ab.

»Wir flüchten vor dem Kram. Doofe Dinge, doofes Fest. Nervt nur«, kommentierte eines der Mädchen.

»Komm doch mit! Wir gehen auf eine Party!«, forderte sie ein Junge auf.

Mareike war nun sprachlos. Sie fühlte sich fehl am Platz. Ihre gute Intention stieß auf wohlwollende Ablehnung. Es gab Menschen, die versuchten sich dem zu entziehen, wonach Mareike sich sehnte. Das war seltsam. Befremdlich. Sollte sie einfach mitgehen? Party klang nicht nach Weihnachten. Vermutlich gingen sie in irgendeine laute Disco, oder wie auch immer man das jetzt gerade nannte. Mareike fühlte sich dafür viel zu alt.

»Nein danke … ich … ich …«, stammelte sie verlegen. »Ich bin schließlich ein Rentier … und …«

Die Gruppe lachte und ging weiter.

»Na dann, Rentier! Einen schönen stillen Abend noch!«

Mareike blieb zurück. Sie konnte das Gefühl in ihr zunächst nicht benennen, aber dann erkannte sie es. Es war Traurigkeit. Verdammt. Sie gehörte nirgends richtig hin. Das war nicht fair. Gerade an Weihnachten sollten doch alle Wünsche in Erfüllung gehen. Man sagte doch immer, es wäre diese eine Nacht im Jahr, in der eine Art Magie herrschte. So ausgefallen waren Mareikes Ideen doch nicht und sie hatte sich doch auch redlich bemüht. Wo war das Weihnachtswunder hin? Wieso kümmerte es sich nicht um Mareike?

»Der Bus!«, stieß ein Gedanke sie aus der Trübsal. Sie hörte ein Geräusch hinter sich und es klang sehr deutlich nach einem Bus. Wenn er es war, musste sie ihn unbedingt erwischen. Sie hatte keine Lust mehr, hier nutzlos durch die Kälte zu laufen. Sie musste nach Hause oder zumindest woanders hin oder wenigstens eine Weile an einem wärmeren Ort verbringen.

Hektisch sah sie sich um. Es war tatsächlich der Bus. Er kam die Straße herunter. Doch hier war nirgendwo eine Haltestelle. Er würde nicht stehen bleiben. Mareike fluchte und stellte sich dann mitten auf die Straße.

Mission Rentier

Weihnachtsspecial 2014 aus dem Zyklus »Das Buch der Welten«

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»Der Bus!«, stieß ein Gedanke sie aus der Trübsal. Sie hörte ein Geräusch hinter sich und es klang sehr deutlich nach einem Bus. Wenn er es war, musste sie ihn unbedingt erwischen. Sie hatte keine Lust mehr, hier nutzlos durch die Kälte zu laufen. Sie musste nach Hause oder zumindest woanders hin oder wenigstens eine Weile an einem wärmeren Ort verbringen.
Hektisch sah sie sich um. Es war tatsächlich der Bus. Er kam die Straße herunter. Doch hier war nirgendwo eine Haltestelle. Er würde nicht stehen bleiben. Mareike fluchte und stellte sich dann mitten auf die Straße. Würde der Busfahrer zu Weihnachten wirklich ein Rentier überfahren? Er durfte eigentlich nicht außerhalb der Haltestellen Fahrgäste aufnehmen, aber vielleicht machte er heute eine Ausnahme.

Der Bus musste wohl während der Fahrt eingedöst sein. Er kannte ohnehin alle Strecken längst auswendig. Doch plötzlich fühlte er sich hellwach. Er war unterwegs in einer kühlen Nacht auf leeren Straßen. Alles war mit einem Mal so real. Es war ihm so, als wäre er in diesem Moment plötzlich geboren worden, und doch existierte er schon viele Jahre und wusste das auch ganz genau. Er hatte kaum genug Zeit, sich darüber bewusst zu werden, als vor ihm ein Hindernis auftauchte. Es war offenbar ein … nein … Was war das? Ein Reh? Ein Mensch? Er konnte es nicht genau erkennen. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass sein Fahrer auf die Bremse trat, aber ein wenig war er doch genervt von dieser ruppigen Unterbrechung der sanften Fahrt.

Der Bus kam auf sie zu, wurde langsamer und hielt dann. Es passierte nichts Dramatisches. Keine Reifen quietschten, kein wildes Hupen. Er hielt einfach nur an und die Türen öffneten sich zischend. Mareike brauchte zwei Sekunden, um zu realisieren, dass er sie einfach so mitnahm. Dann stieg sie demütig ein.
»Guten Abend«, begrüßte der Busfahrer sie.
»Guten … Guten Abend«, stammelte Mareike. Sie war verblüfft von so viel Selbstverständlichkeit. Vielleicht war gerade ein kleiner Wunsch von ihr in Erfüllung gegangen.
»Meine Fahrkarte habe ich hier irgendwo … Moment …«, beteuerte sie, während sie diese hektisch suchte.
»Schon gut … heute ist gratis … Hinsetzen bitte, es geht weiter …«, murmelte der Busfahrer nur, schloss die Türen und fuhr los.
Mareike ging im Bus nach hinten und sah dort eine Reihe von Personen sitzen. Manche sahen sie erwartungsfroh an. Eine Dame murmelte etwas von »Frohe Weihnachten«. Ein Mann nickte nur leise und lächelte. In dem Bus herrschte eine leichte, warme Stimmung, die Mareike nicht mehr erhofft hätte.
»Hallo! Frohe Weihnachten«, konnte sie schließlich sagen. Dann fiel ihr der Sack ein, den sie noch mit sich herumtrug. Sie hatte immer noch Geschenke darin und diese Menschen sahen so aus, als würden sie diese auch annehmen.

Der Sack merkte, wie man ihn hektisch aufriss und wieder in ihm herumwühlte. Diejenige, die das tat, hatte ziemlich kalte Hände.

Vorsichtig begann Mareike im Sack zu wühlen.

Der Sack empfand es nicht als besonders vorsichtig. Es war hingegen regelrecht ungestüm und grobmotorisch.

Mareike versuchte nicht mehr, selbst zu entscheiden, wem sie was gab. Sie wollte es nicht einmal mehr wissen. Sollte das Schicksal von nun an entscheiden. Langsam ging sie von einem zum anderen und gab ihm ein Geschenk. Die Leute waren überrascht und doch erfreut.
Während Mareike noch dabei war, ihre Geschenke zu verteilen, erreichte der Bus mehrmals eine Haltestelle, an der Menschen ausstiegen. Sie achtete darauf, dass jeder sein Geschenk erhielt, bevor sie sich von ihm verabschiedete. Irgendwann stieg die letzte Person aus. Es war die Dame, die ihr zu Anfang frohe Weihnachten gewünscht hatte. Sie verabschiedete sich lächelnd, der Bus fuhr weiter und die Dame blieb hinter ihnen in der dunklen Nacht zurück.
Mareike griff in den Sack. Jetzt waren nur noch drei Geschenke darin. Sie war fast fertig. Da fiel ihr der Busfahrer ein. Er hatte noch nichts bekommen. Sie ging den Weg zurück nach vorne, setzte sich auf einen der Plätze in der Nähe des Fahrers und wartete auf ihre Chance. Der Bus fuhr einige Kurven. Mareike sah nach draußen und bemerkte, dass ihr die Umgebung nicht vertraut war. Irgendetwas war seltsam. Die Strecke des 19er hätte sie eigentlich kennen müssen. Etwas war verkehrt. In welchem Bus saß sie hier?
»Ist das nicht der 19er?«, fragte sie den Fahrer entsetzt. In diesem Moment fiel ihr Blick auf das Schild »Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!«.

Das Schild blickte sie so böse an, wie es nur konnte. Es war ungehalten und sein Selbstwertgefühl war ohnehin schon nicht das beste. Wozu hatte man es hier hingenagelt, wenn die Leute zu dumm waren, es zu beachten? Es konzentrierte sich und versuchte seine Gedanken auf diese ungezogene Person dort zu übertragen.
»Halt die Klappe!«, versuchte das Schild zu projizieren. Es redete sich selbst ein, dass es dies sehr erfolgreich praktizierte, aber wenn es ehrlich war, hatte es keine Ahnung, ob so etwas wie Gedankenübertragung wirklich existierte.

Schuldbewusst verstummte Mareike, doch der Busfahrer bremste schon ab, brachte den Bus zum Stehen, hielt an und drehte sich zu ihr um.
»Wer gedrückt hat, steigt aus!«, brüllte der Busfahrer. Mareike kannte diese Szene aus einem Podcast, in dem auch ein Känguru vorkam. Das spielte aber keine Rolle. Das alles passierte nur in den Gedanken von Mareike. Der Busfahrer hatte sie gar nicht angebrüllt.
»Endstation!«, raunte er nur. Mareike sah ihn dennoch erschrocken an. Nahm er es ihr doch übel? Warf er sie wirklich aus dem Bus? Durfte er das denn?
»Aber ich … ich wollte doch nur wissen, ob das hier der 19er ist …«, stammelte sie.
»Ich verstehe schon. Nein, das hier ist leider nicht der 19er«, antwortete der Busfahrer. Er stellte den Motor ab, packte seine Sachen zusammen und erhob sich. »Wollten Sie denn mit dem 19er fahren?«
»Äh ja … ich dachte …«, brachte Mareike nur heraus.
»Nun, das tut mir sehr leid. Sie haben leider den falschen Bus erwischt. Trotzdem ist das hier die Endstation. Heute fährt dieser Bus hier nirgends mehr hin. Das hier ist die Endstation und gleichzeitig das Busdepot. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich den Bus direkt hier abgestellt habe, aber sehen Sie dort vorne, keine 30 Meter von hier, finden Sie die offizielle Endhaltestelle.«
»Aber ich … wie komme ich denn nun von hier weg?«, wollte Mareike verzweifelt wissen.
»Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich denke, Sie sollten sich ein Taxi nehmen. Ob von hier aus heute noch Busse abfahren, weiß ich leider nicht. Vorne an der Haltestelle hängt bestimmt ein Plan. Viele werden es aber bestimmt nicht mehr sein. Für mich ist mein Dienst heute zu Ende und ich hoffe, Sie verstehen, dass ich gerne zu meiner Familie möchte.«

»Nänänänä …«, sagte der Bus. Dieses Rentier, das sich hier so frech in den Weg gestellt hatte, war in den falschen Bus gestiegen. Die ganze Aktion war völlig sinnlos gewesen. »Nänänänä!«, sagte der Bus noch mal. Die Sprache, die er dazu benutzte, konnten die Menschen allerdings nicht verstehen. So wurden seine Hänseleien von ihnen nur als das Knacken eines erkaltenden Motors wahrgenommen.

»Oh … natürlich … Ich verstehe das, es ist … Sagen Sie, könnten Sie mich vielleicht ein Stück mitnehmen, irgendwohin? Eine Station, die auf dem Weg liegt und von der aus ich vielleicht …«
»Nein!«, antwortete der Busfahrer sehr direkt und deutlich. Es war so schnörkellos, dass Mareike regelrecht zusammenzuckte. Wer verweigerte denn einer Frau am Heiligen Abend eine kleine Mitfahrgelegenheit?
»Aber ich …«, versuchte Mareike zu entgegen, doch ihre Stimme erstarb.
»Es tut mir leid, aber … Sehen Sie das Fahrrad dort? Damit werde ich jetzt nach Hause radeln. Ich habe privat leider kein eigenes Auto. Meine Frau und ich, wir haben nur eines und sie braucht es tagsüber, um die Kinder … na ja, egal … jedenfalls wohne ich dort oben, hinter diesem Hügel. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie nicht einlade, dorthin mitzukommen.«
Der Busfahrer machte sich daran auszusteigen und Mareike verließ ebenso das Fahrzeug, um ihn nicht aufzuhalten. Er sperrte es ab, indem er den Schlüssel hinter einer kleinen Klappe draußen drehte. Mareike erwischte sich, wie sie völlig entgeistert auf diese kleine Klappe starrte. Natürlich hatte ein Bus keine normale Tür mit einem Schloss, aber diese Klappe war ihr trotzdem noch nie aufgefallen. Und all das spielte jetzt keine Rolle. Sie versuchte sich zu orientieren.
»Schöne Weihnachten noch!«, verabschiedete der Mann sich und schwang sich auf sein Fahrrad.
»Halt, Moment!«, rief Mareike in diesem Moment noch.
Der Busfahrer hielt noch mal inne.
»Ich kann Sie wirklich nicht mitnehmen«, beteuerte er, »ich hab ja nicht mal einen Gepäckträger an meinem Fahrrad.«
»Nein, das ist es nicht. Ich habe hier ein Geschenk für Sie!«, rief sie und lief zu ihm, um eines der letzten drei kleinen Päckchen an ihn zu überreichen. Kurz dachte sie darüber nach, ob sie ihm die anderen auch noch mitgeben sollte, aber verwarf den Gedanken schnell wieder. Er stopfte das eine Päckchen in seinen Rucksack. Mehr wäre ohnehin nicht hineingegangen.
»Vielen Dank, das ist sehr nett, wirklich. Tut mir schrecklich leid, aber …«
»Ja, ja, schon gut! Ich werde schon klarkommen! Fahren Sie nur zu Ihrer Familie!«, wiegelte sie ab, ohne recht zu wissen, ob sie sich dies selbst glauben sollte.
Der Busfahrer winkte ihr nochmals zum Abschied und verschwand dann in der Nacht. Mareike bemerkte den Nebel, der aufgezogen war und in dem er sich schnell verlor.

Die Kälte kam zurück. Solange sie im Bus gewesen war, hatte sie die Kälte vergessen, aber jetzt kam sie zurück. Vielleicht hätte sie den Busfahrer bitten sollen, sie im Bus übernachten zu lassen, aber der wäre sicherlich auch bald ausgekühlt. Hierzubleiben war einfach keine Option. Sie ging zügig zur Haltestelle, die er ihr gezeigt hatte. Dort hing eine ganze Reihe verschiedener Pläne. Viele Buslinien hatten hier ihren End- und Anfangspunkt. Das war logisch und klug geplant, da hier ohnehin ihr Depot war. Doch der Haken an der Sache wurde auch schnell deutlich. Von hier fuhren fast nur am frühen Morgen Busse weg. Spät am Abend war dies nur die Endstation. Busse kamen hierher, um abgestellt zu werden. Nur zwei Buslinien hatten noch Abfahrtszeiten am Abend eingetragen. Bei genauerer Betrachtung sah Mareike ein kleines Symbol. Als sie die Legende dazu gefunden hatte, seufzte sie.
»Nicht am 24. Dezember« stand dort.
Sie stellte ihren Sack ab, suchte ihr Handy, fand es schließlich und bemerkte, dass es abgeschaltet war. Sie konnte sich nicht erinnern, das bewusst getan zu haben. Irritiert schaltete sie es ein, zumindest dachte sie das. Eigentlich hatte sie nur einen kläglichen Versuch unternommen, das Unabwendbare zu ignorieren. Nach weiteren Versuchen wurde ihr bewusst, dass der Akku offenbar erschöpft war. Ihr Handy war nicht abgeschaltet, es war völlig energielos und tot. Ein Taxi würde sie damit nicht rufen können.
»Verdammt!«, fluchte sie.
Hektisch sah sie sich um. Hier war nicht viel in der Nähe. Straßen, aber keine Autos darauf. In der Ferne waren im Nebel nur Straßenlaternen zu sehen, aber vermutlich war das hier eher so eine Art Industriegebiet. Irgendetwas am Rand der Stadt. Sie kannte die Gegend nicht. Hier blindlings loszulaufen war wenig verlockend.
Hilflos studierte sie noch mal die Fahrpläne der verschiedenen Busse. Drei sollten heute Nacht hier noch ankommen. Nach einem weiteren Blick in die Legende korrigierte sie diese Anzahl. Ein Bus sollte hier heute noch ankommen. Laut Fahrplan dauerte es noch etwa eine Viertelstunde, bis das geschah. Der Fahrer würde den Bus vermutlich auch hier einfach nur abstellen, aber vielleicht wäre er so nett, sie dann mitzunehmen.
Sie überlegte noch mal. Vielleicht war es ja auch eine Frau. Dann dachte sie erneut nach und beschloss, dass das für den Moment völlig egal war. Sie sah neben den abgestellten Bussen auch noch einen einzelnen Pkw und folgerte, dass dieser wohl dem Busfahrer oder der Busfahrerin gehören müsste. Damit würde sie oder er nach Hause fahren, und wenn sie nett fragte, könnte sie oder er sie oder ihn bestimmt zu ihr oder ihm nach Hause mitnehmen und …
Ihre Gedanken hatten sich verheddert. Sie musste aufhören mit diesen verwirrenden gleichberechtigten Formulierungen. Ihr war kalt. Zum Glück gab es hier ein Stückchen weiter ein Wartehäuschen. Es hatte sogar eine Tür und Plexiglasscheiben. Es war innen beleuchtet, und als sie näher kam, erkannte sie …
Ihre Gedanken stockten erneut. Es war voll mit Spinnen. Nein, eigentlich sah man zunächst gar keine Spinnen, sondern nur die Spinnweben, die aber sicher von Spinnen stammten. Erst als Mareike näher heranging und genauer hinsah, konnte sie das Krabbeln und Wuseln in dem fast flächendeckenden Gespinst erkennen.
»Wieso lebt ihr kleinen Viecher noch, wenn es so kalt ist?«, fragte sie ganz offen. Die Spinnen antworteten ihr nicht.
Vermutlich war es drinnen ein gutes Stück wärmer als draußen, nur so ließ sich die arachnoide Aktivität erklären. Wovon sich die kleinen Achtbeiner ernährten, blieb Mareike allerdings ein Rätsel.

Persulaela stieg vom Abfalleimer, in dem sie geboren worden war, auf. Genauer gesagt war sie in einer alten Bananenschale geboren worden, die jemand einmal hier weggeworfen hatte. Da niemals jemand diesen Abfall leerte, hatte sie dort genügend Zeit gehabt, heranzuwachsen und schließlich ihre Kinderstube zu verlassen. Dies war ihr Jungfernflug. Doch schon kurz nach dem Start war sie auf ein unsichtbares Kraftfeld gestoßen. Durch dieses hindurch konnte sie ein Tier erkennen, das ein Geweih trug. Doch das Kraftfeld hielt Persulaela davon ab, dorthin vorzudringen. Sie orientierte sich am Licht, doch die Eindrücke waren verwirrend. Plötzlich blieb sie stecken. Es fühlte sich seltsam klebrig an, fast so wie das dichte Pilzgeflecht, das auf der Bananenschale gewachsen war. Irgendetwas mit vielen Beinen kam näher. Vielleicht eine besondere Art von Mücke. Persulaela fühlte einen Einstich und hatte dann den Eindruck, alles in ihr würde sich verflüssigen. Das war seltsam. Unangenehm, aber nicht direkt schmerzhaft. Dann verlor sie jeden Begriff davon, was es hieß, eine Mücke zu sein. Sie war Nahrung und sie wanderte in einen fremden Magen. Sie wurde zum Bestandteil von etwas Neuem. Sie fühlte es deutlich. Etwas anderes war da, mit dem sie sich vereinigte zu etwas, das durch diesen Prozess gerade entstand. Sie wurde zusammen mit einer hungrigen Spinne zu einer satten Spinne, die nun wieder das fremde Tier mit dem Geweih sah, das direkt vor dem Kraftfeld stand.

Mareike zögerte immer noch und überlegte, ob sie hineingehen sollte. Die Wärme darin war ein gutes Argument, das Wartehäuschen zu betreten. Die Spinnen waren ein gutes Argument, es nicht zu tun. Sie hatte keine Panik, aber irgendwie war es … Wie sollte sie das ausdrücken?
»Doch!«, korrigierte sie sich selbst. Sie hatte Panik!
Mit einem Seufzer kehrte sie dem Spinnenhaus den Rücken und ging zur Haltestelle zurück. Die Viertelstunde würde sie auch noch hier draußen überstehen. Sie hüpfte entschlossen auf und ab und …

Das Wartehäuschen war aus einem Dösen erwacht. Die Spinnen in ihm rumorten. Es fühlte sich an wie Verdauung und Stoffwechsel. Nicht alles davon war lecker, aber es war notwendig und gehörte dazu. Manchmal, aber nur selten, kamen auch Menschen herein. Der Mensch, der gerade noch vor der Tür gestanden hatte, war hingegen davongegangen zu einem Haltestellenpfosten, mit dem das Wartehäuschen hin und wieder ein paar Worte wechselte. Keine Ahnung, was die Menschen nur an ihm fanden, dass sie sich so gerne in seiner Nähe aufhielten. Es gab einen gewissen unausgesprochenen Konkurrenzkampf zwischen ihm und dem Wartehäuschen. Diesmal hatte wohl wieder der doofe Pfosten gewonnen. Der Mensch machte dort lustige Sprünge. Erst immer rund um den Pfosten herum, dann aber sprang der Mensch zurück in Richtung des Wartehäuschens. Das streckte dem doofen Pfosten die Zunge heraus und er nahm es beleidigt zur Kenntnis.

Kurz darauf war Mareike zurück am Eingang des Wartehäuschens und betrat es entschlossen. Die Spinnen nahmen keine Notiz von ihr. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bank. Der Bereich war erstaunlicherweise weiträumig frei von Spinnweben. In der Tat war es hier drinnen ein Stück wärmer. Eigentlich konnte sie sich mit der Situation doch ganz gut arrangieren.
Ihr Blick fiel auf den Sack. Sie prüfte es noch einmal nach. Es waren noch genau zwei Geschenke darin. Derjenige, der sie heimbrachte, würde eines davon bekommen.

Der Sack atmete auf. Endlich hatte sie ihre kalten Finger wieder herausgezogen. Hoffentlich waren diese Dinge in ihm bald weg und dieses dauernd herumgef… Aaah! Das durfte doch nicht wahr sein. Sie hatte schon wieder ihre eiskalte Hand in ihn hineingesteckt!

»Moment mal!«, überlegte sie laut. Sie kramte das eine Päckchen heraus. Sie hatte es vorhin schon einmal kurz in der Hand gehabt. Es war schwer und kompakt und sie konnte sich nicht entsinnen, so etwas eingepackt zu haben.
»Und du gehörst mir!«, beschloss sie schließlich.

»Na endlich!«, seufzte der Inhalt des Päckchens erleichtert auf.

 

Mission Rentier

Weihnachtsspecial 2014 aus dem Zyklus »Das Buch der Welten«

Hier beginnt der dritte Teil der dreiteiligen freien Kurzgeschichte.
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»Moment mal!«, überlegte sie laut. Sie kramte das eine Päckchen heraus. Sie hatte es vorhin schon einmal kurz in der Hand gehabt. Es war schwer und kompakt und sie konnte sich nicht entsinnen, so etwas eingepackt zu haben.

»Und du gehörst mir!«, beschloss sie schließlich.

»Na endlich!«, seufzte der Inhalt des Päckchens erleichtert auf.

Sie hatte selbst auch noch nichts bekommen, von niemandem. Keiner von denen, die Mareike beschenkt hatte, war darauf vorbereitet gewesen. Niemand hatte ihr im Gegenzug etwas überreicht. Also war dieses unbekannte Ding hier jetzt ihr Geschenk. Das war nur fair.

Der wahre Grund aber war natürlich, dass sie sehr neugierig war und unbedingt wissen wollte, was sich unter dem Geschenkpapier befand. Vorsichtig öffnete sie es und wickelte das Geschenkpapier herunter. Es war ein Buch. Es war alt, abgegriffen, etwas speckig, aber robust gebunden und sah benutzt, aber gut erhalten aus.

»Buch Welten«, las sie. Dann sah sie genauer hin und erkannte dazwischen die kleineren Wörter: »Das Buch der Welten«, las sie erneut. »Aha!«, fügte sie verwundert hinzu.

Sie schlug es auf, fand kein Inhaltsverzeichnis, sondern nur einen Satz. »Hallo Mareike! Frohe Weihnachten!«, stand dort zu lesen. Mareike verharrte für einen Augenblick in ehrfürchtigem Staunen. Das hier war tatsächlich ihr Geschenk. Irgendjemand hatte es ihr in den Sack gesteckt. Jemand hatte extra dieses Buch … Sie hielt inne. Irgendetwas an dem, was sie hatte denken wollen, ergab keinen Sinn.

»Jemand hat dieses Buch extra für mich gedruckt und dann abgenutzt?«, überlegte sie verwirrt. »Quatsch!«

Sie untersuchte die Seiten und die Schrift. Es waren fest gebundene Seiten, die alle gleichartig wirkten. Es war keine nachträglich eingefügte Seite und die Schrift, die sie begrüßte, war gedruckt, und das wohl schon vor langer Zeit.

»Verrückt! Es muss ein Buch sein, das zufällig damit beginnt, dass es jemanden mit meinem Namen begrüßt. Irgendein Verehrer …«, murmelte sie und musste kichern. »Also irgendwer, der mich kennt, hat es zufällig entdeckt, eingepackt …« Sie stockte erneut. »In genau das Geschenkpapier eingepackt, das ich auch verwende, und hat es mir in den Sack gesteckt und … Ach nein, jetzt weiß ich. Es war jemand, dem ich etwas geschenkt habe. Derjenige hat sein Geschenk ausgewickelt und stattdessen dieses Buch mit demselben Papier verpackt und mir in den Sack geschmuggelt. Das macht Sinn! Jemand wollte mir etwas zurückschenken und hatte gerade zufällig etwas Passendes dabei und …« Sie hielt erneut inne. »Ich habe doch niemandem meinen Namen gesagt, oder? Jemand muss mich schon gekannt haben und …«

Sie seufzte.

»Das ist alles sehr verwirrend!«

»Sie ist ziemlich gut darin, sich Geschichten auszudenken, das muss ich ihr lassen«, dachte das Buch der Welten. »Für so eine Situation noch eine alltägliche Erklärung zu finden ist sehr kreativ. Ich sollte vielleicht noch etwas mehr Zeit mit ihr verbringen. Vielleicht können wir uns gegenseitig noch einige Geschichten erzählen, die wir noch nicht kennen.«

Sie blätterte einfach um.

»Ich bin das Buch der Welten und habe mir gedacht, dass ich dir eine Freude bereiten könnte«, las sie auf der nächsten Seite. Dort stand noch viel mehr Text. »Bald schon wird ein Bus kommen. Wenn du den Busfahrer auf die richtige Weise fragst, wird er dich mit dem Bus hinbringen, wohin du willst. Er wird dir helfen und du wirst ihm helfen. Sag ihm einfach, dass du Mareike heißt. Ihm wurde ohnehin schon gekündigt. Für ihn kommt es nicht mehr drauf an, wo er den Bus heute Nacht abstellt.«

Mareike überlegte. Der Text war frappierend. Sie wartete ja auch auf einen Bus. Dass dieses Buch so eine ähnliche Situation aufgriff, war schon verblüffend. Vielleicht hatte ein Busfahrer ihr das zugesteckt. Aber woher hatte der zufällig ein …

»Du wolltest doch ein Weihnachtswunder!«, las sie weiter. »Hier offenbart es sich dir nun. Entscheide selbst, ob du nach Hause willst, in deine Badewanne, oder ob du bereit bist für ein noch größeres Wunder. Ich kann dir einen Ort zeigen, an dem gehen die Wünsche in Erfüllung. Es ist der perfekte Ort für einen Weihnachtsabend. Auf der nächsten Seite findest du einen Plan. Er wird dir den Weg weisen.«

Sie blätterte um. Dort war tatsächlich ein Plan. Das Verblüffende war, dass dort ein Weg eingezeichnet war, der zu ihrer Situation passte. Der Anfang sah ihrem wirklichen Aufenthaltsort sehr ähnlich. Der Plan führte aus der Stadt hinaus, in ein Gebiet, das als Wald eingezeichnet war.

Das Buch beobachtete Mareike. Es war immer faszinierend, mit Menschen auf diese Weise zu interagieren. Die Reaktionen waren so vielfältig wie das Sonnenlicht, das sich in einem Prisma brach.

Mareike saß da und wusste nicht recht, wie sie sich fühlte. Es war ein Wunder. Es war Weihnachten. Und doch war es sehr seltsam und ein klein wenig beunruhigend. Vielleicht sollte sie einfach nach Hause fahren. Die Mission Rentier war Abenteuer genug gewesen für einen Weihnachtsabend. Eine nette Idee, aber man musste es nicht übertreiben.

Andererseits wartete dort ein Versprechen: »Alle Wünsche gehen in Erfüllung.« Wenn sie es heute nicht glauben konnte, an welchem anderen Tag des Jahres konnte sie dann darauf hoffen?

Sie blätterte nochmal um.

»Mehr gibt es eigentlich nicht dazu zu sagen im Moment. Aber ich kann dir gerne noch einige Geschichten erzählen. Ich bin voller Geschichten. Du kannst sie gerne lesen!«

Sie blätterte wieder um und noch mal und noch mal.

Dort standen ganze Kapitel, viel Text, Geschichten, vielleicht ein ganzer Roman. Sie überflog kurz, worum es ging, und entdeckte eine Beschreibung, die sie faszinierte. Sie las sie voll Interesse und blickte dann nach oben zu den Spinnen, die ihr Netz webten. Der Text handelte von der Kunstfertigkeit einer Spinne beim Weben des Netzes. Sie hatte Spinnen noch niemals so betrachtet. Beeindruckt wendete sie sich wieder dem Buch zu und las weiter.

»Die Spinnen blickten nach unten und sahen die lesende Menschenfrau und waren beeindruckt. Noch niemals zuvor hatten sie einen Menschen so betrachtet«, stand dort im Buch zu lesen.

»Fuck!«, sagte Mareike und schlug entsetzt das Buch zu.

In diesem Moment sah sie draußen Lichter. Ein Bus kam heran.

Sie sah zu den Spinnen hoch, sah dann zum Buch, dann wieder zum Bus, riss die Tür auf und sprang hinaus. Der Bus fuhr an der Haltestelle vorbei. Mareike rannte ihm winkend hinterher. Sie hatte keine Ahnung, wo er hinwollte. Vielleicht blieb er gleich neben den anderen Bussen stehen. Vielleicht fuhr er einfach weiter, irgendwohin. Mareike konnte es darauf nicht ankommen lassen. Dieser Bus war ihre einzige Chance, hier heute noch wegzukommen. Es war auch ihre einzige Chance, den Hinweisen aus dem Buch zu folgen.

Der Bus hielt. Der Fahrer hatte sie gesehen. Sie lief bis zu seiner Tür vor, wunderte sich, dass sie noch nicht geöffnet war, und klopfte wild dagegen. Erst in diesem Moment sah sie drinnen im Halbdunkel den Busfahrer, der beim Klopfen heftig zusammenzuckte und Mareike anstarrte. Dann öffnete er schließlich die Tür, ohne etwas zu sagen.

»Hallo! Frohe Weihnachten!«, rief Mareike.

»Ich … Es ist hier Endstation … es ist …«, gab der Busfahrer immer noch sichtlich schockiert von sich. Er hatte Mareike offenbar erst bemerkt, als sie angeklopft hatte. Warum war er dann aber stehen geblieben?

»Ja, ich weiß schon! Aber ich komme hier nicht mehr weg. Mein Handy ist leer, ich kenne mich hier nicht aus und … Könnten Sie mich wohl mitnehmen?«, fragte sie und zeigte auf den Pkw.

Der Busfahrer beugte sich vor, um zu erkennen, auf was sie da deutete.

Der Pkw erschrak. Irgendjemand hatte auf ihn gezeigt. Er spürte das deutlich. Zwei Menschen glotzten ihn an. War einer davon etwa sein Fahrer? Der hatte nur mal schnell Zigaretten holen wollen. Das war jetzt schon sehr lange her.

»Ist das Ihr Wagen? Können Sie selbst nicht mehr fahren? Ich verstehe nicht!«

»Nein, es ist doch Ihrer, oder? Sie stellen jetzt den Bus ab und fahren damit heim und dann könnten Sie mich doch vielleicht …«, erklärte Mareike, aber der Busfahrer unterbrach sie, noch bevor sie fertig war.

»Das ist nicht meiner. Der steht da schon eine Ewigkeit. Ist vermutlich nur noch Schrott. Ich hab kein Auto«, berichtigte der Busfahrer.

»Ah, weil Ihre Frau das Auto braucht und …«, versuchte Mareike zu ergänzen. Die Busfahrer hatten offenbar alle keine eigenen Autos, obwohl sie den ganzen Tag über mit Bussen fuhren. Mareike war sich sicher, dass es so sein müsste. Doch die Miene des Busfahrers verdunkelte sich, als sie das gesagt hatte.

»Meine Frau? Das Auto?«, murmelte er bitter und schien mit jedem Wort weiter in sich selbst zu verschwinden. »Ja, vielleicht muss man das so sagen. Sie braucht es jetzt nicht mehr. Aber sie hat es mitgenommen«, erklärte er.

Mareike verstand nicht ganz, aber es war offensichtlich, dass ihn irgendetwas traurig machte. Vielleicht hatte sie ihn verlassen und das Auto einfach mitgenommen. Deshalb hatte er jetzt keines. Mareike war wohl in ein Fettnäpfchen getreten.

»Eigentlich hat eher das Auto sie mitgenommen«, fügte er dann hinzu und Mareike ahnte, dass die Geschichte wohl noch dramatischer war, als sie bisher angenommen hatte. Sie wusste nicht recht, wie sie weiter verfahren sollte. Zum Glück sprach der Mann von sich aus einfach weiter.

»Ich hatte gerade überlegt, was ich tun sollte. Eigentlich muss ich den Bus hier abstellen und zu Fuß nach Hause gehen. Aber ich hatte gerade den Gedanken, einfach mit dem Bus heimzufahren und ihn irgendwo abzustellen. Ich bin mir nicht sicher, ob man ihn bis zu meiner nächsten Schicht vermissen wird. Allerdings haben sie mich ohnehin schon rausgeworfen, da könnte man es ja vielleicht drauf ankommen lassen. Mit Jahresende ist Schluss. Sie feuern mich. Ich bin ihnen nicht mehr seelisch stabil genug, meinen sie. Ich fahre übervorsichtig. Zaghaft. Dadurch komme ich zu spät, meinen sie. Dabei sind die Fahrpläne der reinste Irrsinn. Nur heute Nacht konnte ich ihn einhalten. Heute waren die Straßen leer. Aber sonst …«

»Ich verstehe schon. Sie …«, wollte Mareike ihr Mitgefühl ausdrücken, aber dann schluckte sie die restlichen Worte hinunter.

»Aber dann dachte ich mir, wieso nach Hause fahren? Was will ich denn dort? Warum nicht einfach woanders hinfahren und den Bus gleich mitnehmen?«

»Wie meinen Sie? Woandershin? Wohin denn? Wie meinen Sie das mit dem Mitnehmen?«, fragte sie naiv, bis ihr bewusst wurde, was er wohl meinen könnte.

»Vielleicht haben Sie ja Lust, mit mir an einen ganz anderen Ort zu fahren?«, fragte sie.

»Ein anderer Ort? Ja, genau! Daran hatte ich eben auch gedacht …«, murmelte er und seine Gedanken schienen davonzudriften in eine andere Welt. »Einfach an einen anderen Ort.«

Mareike schluckte und sah ihn erschrocken an. Dies war eine dunkle Nacht, doch seine Gedanken waren noch viel dunkler. Sie musste ihn schnell davon abbringen.

»Es ist ein Ort hier in der Nähe, an dem wir zusammen den Weihnachtsabend verbringen können. Er ist ideal. Man kann dort gemeinsam feiern. Es gibt viele Menschen dort und es macht wirklich Spaß! Da bleibt kein Wunsch unerfüllt«, fantasierte sie sich die Details zusammen.

Der Busfahrer sah sie nachdenklich an.

»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Wissen Sie, ich hatte vor Kurzem ein seltsames Erlebnis. Ich dachte, es würde jetzt alles anders werden, aber irgendwie kam dieser Tag und ging vorbei, ohne dass es passierte«, sagte der Busfahrer nachdenklich.

Mareike war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand. Der Busfahrer schien wieder in Gedanken versunken zu sein. Die Situation fühlte sich seltsam und beunruhigend an.

»Na gut, also, es ist so. Ich habe eine kleine Skizze. Einen Plan, der uns zu einem Ort vor der Stadt bringt. Wenn Sie nichts anderes vorhaben, vielleicht fahren wir einfach dorthin. Es heißt, dass dort alle Wünsche in Erfüllung gehen und … hey … es ist doch Weihnachten. Warum sollten wir nicht einfach dorthin und uns die Sache mal ansehen? Wenn es nicht klappt, fahren wir nach Hause«, schlug Mareike vor.

Der Busfahrer blickte durch sie hindurch, so als ob er sie gar nicht sehen könnte.

»Ich denke nicht. Wunder gibt es nicht. Ich werde den Bus abstellen und dann nach Hause gehen … oder an einen anderen Ort … Ich wünsche Ihnen einen schönen …«

»Hey, Moment!«, fuhr ihm Mareike dazwischen. Sie war bereit zu kämpfen. »Nicht so schnell! Sehen Sie hier!« Sie zog das Buch der Welten hervor und schlug es auf, um ihm die Skizze zu zeigen.

»Wo haben Sie das her?«, fragte der Mann verwirrt. »Haben Sie diese Skizze dort hineingemalt? Ich verstehe nicht!«

Mareike sah ihn ebenso verwirrt an. Was hatte das Buch ihr noch mitgeteilt? Irgendetwas fehlte noch. Sie musste etwas sagen. Was war es gewesen?

»Ich bin Mareike!«, sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin. Die Miene des Busfahrers veränderte sich schlagartig, aber zunächst schien sie sich nicht entscheiden zu können, wie sie nun aussehen wollte.

»Mareike?«, fragte er fassungslos. »Wo warst du? Den ganzen Tag warte ich schon darauf, dass du einsteigst und … und … aber du kamst nicht. Dies hier war die letzte Fahrt. Meine Schicht ist zu Ende. Ich war mir sicher, dass das Buch gelogen hatte. Und nun bist du hier? Warum?«

Mareike wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war doch jetzt hier. Das war doch alles, was zählte, oder etwa nicht?

»Ich … ich war beschäftigt … ich habe Geschenke verteilt … oh … da fällt mir ein, eines ist noch übrig!« Sie holte es aus dem Sack hervor. »Dieses hier ist dann wohl deines!«

Der Busfahrer sah sie nun staunend und lächelnd an. Er nahm ganz langsam das Geschenk und packte es vorsichtig aus, aber so, dass Mareike nicht sehen konnte, was darin war. Sie hatte versäumt, darauf zu achten, als sie es ihm gegeben hatte. Jetzt war sie neugierig, es zu erfahren, aber sie konnte es nicht erkennen. Er machte es nur ein kleines Stück weit auf, lächelte dann noch viel mehr, packte es wieder zusammen, drückte es an seine Brust und forderte sie auf: »Komm mit! Wir fahren an diesen Ort, wo die Wünsche in Erfüllung gehen!«

Mareike kam ganz herein, setzte sich auf einen der vorderen Plätze und sie fuhren los. Sie fuhren eine Weile schweigend. Nur manchmal sagte ihm Mareike, wo er abbiegen sollte. Sie hielt den Plan vor sich. Er war einleuchtend und passte genau. Der Weg, den sie zu fahren hatten, war offensichtlich. Er führte sie aus der Stadt in ein einsames Waldgebiet. Zu ihrer Überraschung waren sie jedoch nicht das einzige Fahrzeug, das sich an diesem Abend dorthin verirrt hatte.

»Warum siehst du eigentlich aus wie ein Rentier?«, fragte der Busfahrer irgendwann.

»Nun … ich dachte, es wäre vielleicht witzig. Ich reise herum und verteile Geschenke. Da wollte ich mich verkleiden, aber ich fand es doof, mich als Christkind oder gar als Weihnachtsmann zu verkleiden. Es war ganz schön seltsam. Die Straßen waren so leer. Ich habe den falschen Bus genommen. Eigentlich wollte ich den 19er nehmen und dann nach Hause …«

Der Busfahrer hielt sehr plötzlich an und drehte sich dann zu ihr.

»Den 19er sagst du?«, fragte er etwas lauter, als Mareike es erwartet hätte.

»Äh, ja … den 19er … wieso, was ist damit?«, brachte Sie nur kleinlaut heraus. Was passierte jetzt? Hatte sie etwas Falsches gesagt? War irgendetwas kaputt gegangen?

»Das ist interessant! Aber du sagst, du hast ihn nicht erwischt?«

»Na ja, er kam irgendwie nicht, dann bin ich gelaufen und später habe ich einen Bus erwischt, aber es war ein anderer. Ich habe es gar nicht bemerkt. Er fuhr zu diesem Depot und dann saß ich dort fest und so haben wir uns überhaupt erst getroffen«, erklärte sie. Der Busfahrer hatte immer noch angehalten. Von hinten kamen jetzt zwei Autos heran, die stehen blieben und darauf warteten, dass der Bus weiterfahren würde.

»Nun, normalerweise fahre ich den 19er … Heute, gerade heute hat man mich kurzfristig gezwungen, zu tauschen. Ich habe mich gewehrt, aber konnte nichts machen.«

»Warum war es gerade heute so wichtig für dich?«, wollte Mareike wissen.

»Nun, ich habe dieses Buch da«, er deutete dabei auf das Buch der Welten, das Mareike immer noch auf ihrem Schoß hielt, »gefunden. Ich habe es irgendwo aufgeschlagen und darin stand eine seltsame Geschichte, die mich gleich fasziniert hat. Es ging dabei um einen Mann. Vieles an ihm erinnerte mich an mich selbst. Er traf in der Geschichte am Heiligen Abend eine Frau. Sie stieg zu ihm in den Bus und gab ihm ein Geschenk. In der Geschichte erfährt man nicht, was er bekommt, aber in der Geschichte verändert sich dadurch alles für ihn.«

»Ach … und … und du dachtest, dass du dieser Busfahrer wärst und dass du die Frau nur treffen könntest, wenn alles so wäre wie immer?«

»Ja, richtig! Ich habe es mir beim Lesen natürlich so vorgestellt. Als ich die Geschichte gelesen habe, bin ich in Gedanken die 19er-Linie gefahren … Doch plötzlich sollte ich tauschen. Alles brach zusammen. Trotzdem … Ich habe heute darauf gewartet, dass jemand einsteigt … Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, habe mich schon in mein Schicksal ergeben … und dann …«, sagte er und setzte den Bus wieder in Bewegung.

Die Straße durch den Wald, die sie befuhren, war für einen Bus fast schon etwas schmal. Rechts und links standen Fackeln und bildeten ein Spalier, das sie bis zu einer Lichtung führte, auf der viele Fahrzeuge parkten. Dahinter thronten erleuchtete Gebäudeteile.

»Schatten und Licht« stand über einem Eingangsportal zu lesen. Überall hatte man bunte Lichter angebracht, die in der dunklen Nacht glitzerten. Es war kalt. Als sie ausstiegen, knirschte der Schnee unter ihren Füßen. Es waren viele Menschen hier. Dieser Ort war nicht einsam, aber was er genau war, das wussten sie noch nicht.

Mareike und der Busfahrer gingen langsam und staunend auf das Gebäude zu, plötzlich hielt Mareike inne und wand sich dem Busfahrer zu.

»Was war eigentlich in dem Geschenk?«, wollte sie wissen.

Doch der Busfahrer lächelte sie nur an, nahm sie in den Arm und ging mit ihr weiter.

»Was warn desse?«, fragte eine der Fackeln ihren Nachbarn.

»Des hätt ich wohl auch gern gewusst!«, antwortete der.

»S war aber kein Auatoto oder?«, fragte eine Fackel von hinten und immer mehr Fackeln stiegen in die Diskussion mit ein.

»Ne oder. Viel zu rieselich!«

»Ja, viel zu rieslich!«

»Gläubst du, dass das der Weilachtsnamm war?«

»Der Weinlachsam? Wasn des?«

»Wasn des?«

»Der Weilachtsnamm fliecht des Heilandes Nanachs duach die Welten und bringingt die gewüschten Wüsche!«, erklärte eine der Fackeln. Wo sie das aufgeschnappt hatte und welche anderen Fackeln ihr das mal im Durcheinander erzählt hatten, blieb unklar. Kurz darauf plapperte die ganze Allee der Fackeln wild durcheinander und machte sich ihren eigenen Reim darauf, was da grade Großes an ihnen vorbeigekommen war.

Der Bus blieb abgestellt auf der Lichtung, blickte hochnäsig auf die ganzen kleinen Fahrzeuge um ihn herum und fühlte sich gleichzeitig ein wenig unsicher. Was genau taten sie hier und wann würde es weitergehen?

 

 

Ende der dreiteiligen freie Kurzgeschichte.

Diese Geschichte ist in weiteren Formaten für EBook-Reader verfügbar
(siehe Winterspecial 2014).

»Mission Rentier« ist das Weihnachtsspecial 2014
aus dem Zyklus  »Das Buch der Welten«
von Mathias Küfner.
Der erste Teil des Buches ist 2014
unter dem Titel »Zwischen dem Horizont«
als E-Book erschienen.

Die Kurzgeschichte »Mission Rentier«
(aus dem Zyklus »Das Buch der Welten«)
von Mathias Küfner (kuef)
ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.

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Das Buch der Welten