Die Kante des Kontinuums

Die Kante des Kontinuums

Kante Des Kontinuums - Titelbild

Von Mathias Küfner (kuef)  20013
Teaser zur Romanreihe: Das Buch der Welten

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Inhaltsverzeichnis:

Für andere Formate, siehe: Teaser

 

 

Kein Anfang

Sie seufzte.

»Was für ein Anfang …«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang nicht besonders zuversichtlich. Sie stand einfach nur da und ihr Blick wanderte immer wieder hin und her, so als ob sie nicht recht wüsste, wie es nun weitergehen sollte.

»Was für ein Anfang für einen Tag«, präzisierte sie. Sie sah nach unten. Die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Ihre Füße steckten bis zu den Knöcheln in einer Art Morast. Sie wusste genau, dass es ihre eigene Schuld war. Der Morast war nicht ohne Grund hier. Das war ihr klar. Sie überlegte, ob es sich lohnte, noch weiter zu gehen. Vielleicht war dies einfach nicht ihr Tag. Vielleicht war dies einfach nicht ihr Garten. Warum war sie überhaupt hier?

Mühsam zog sie einen Fuß aus dem Morast. Als ihr das endlich gelungen war, summte gerade eine Hummel in Augenhöhe an ihr vorbei. Die Hummel war derartig nah, dass sie intuitiv versuchte zurückzuweichen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht, machte mit dem freien Fuß einen Ausfallschritt und versank sofort wieder im Morast.

Das Ergebnis war eine seltsame breitbeinige Pose, die eher an eine Partie Twister erinnerte als an einen kleinen Spaziergang an einem Sonntagmorgen. Nun hatte sie Schwierigkeiten, nicht vorn- oder hintenüberzukippen. Es war nun viel schwieriger, wieder einen Fuß aus dem Morast zu ziehen. Sie überlegte, wie sie es wohl anstellen sollte.

Aus einiger Distanz sah das Ganze sehr aberwitzig aus. Der Morast war in der grünen Wiese kaum zu erkennen, wenn man weit genug weg stand. Erst aus der Nähe und beim Betreten offenbarten sich die hohe Feuchtigkeit und der glitschige Untergrund.

Sie versuchte nun mit beiden Händen, einen ihrer Füße aus dem Morast zu ziehen. Dabei musste sie jedoch ihr Gewicht auf genau diesen Fuß verlagern, um näher an ihn heranzukommen. Das ganze Unterfangen war somit sinnlos.

Sie hielt inne. Die Hummel beobachtete sie aus einiger Entfernung und versuchte sich einen Reim auf das seltsame Verhalten des Menschen zu machen. Sie diskutierte die Sache kurz mit einer Blüte. Dann stellten sie frustriert fest, dass es ihnen einfach unmöglich war, das Verhalten von Menschen sinnvoll zu erklären. Die Hummel vollzog daraufhin ohne weitere Umschweife die Bestäubung und flog sofort weiter zur nächsten Blume. Die verlassene Blüte rief der Hummel dabei Schimpfwörter hinterher. Sie sei eine ganz miese, fiese Hummel, sie einfach so direkt nach der Bestäubung hier sitzen zu lassen mit den frisch befruchteten Samen. Ein wenig hätte sie sich doch wenigstens Zeit lassen können. Der Stempel sei ja noch nicht mal ganz trocken. Das sei doch keine Art, immer nur schnell, schnell von einer Blume zur nächsten.

Von all dem bekam die Frau im Morast nichts mit. Sie hatte es inzwischen jedoch geschafft, einen ihrer Füße loszubekommen, nur war dabei ihr Schuh stecken geblieben. Nun balancierte sie auf einem Bein und versuchte es zu vermeiden, mit den Socken in den Morast zu treten. Dabei hätte es durchaus eine brauchbare Lösung gegeben. Sie hätte sich nur fallen lassen und auf allen Vieren oder notfalls auf dem Rücken liegend aus dem Bereich herauskrabbeln, -robben oder -rollen müssen. Dabei hätte sie sich freilich komplett mit Schlamm besudelt und sich unschöne Grasflecken in ihre Kleidung gerieben. Aber es wäre eine Lösung gewesen und sie wäre ohne Umschweife direkt verfügbar gewesen. Nur wollte sie das eben partout nicht. Also balancierte sie weiter auf einem Bein, ging dabei in die Hocke und versuchte ihren Schuh aus dem Morast zu ziehen.

Die Hummel hatte inzwischen fünf weitere Blumen verputzt, die sich fast alle ebenso beschwert hatten. Nur eine Tulpe war ganz euphorisch zurückgeblieben und hatte gejubelt, dass sie es nicht leiden könne, wenn manche Schmetterlinge so ein endlos langes Aufhebens um die Bestäubung machten. Nur einmal habe sie einen Kolibri gehabt. Flora weiß, wo der her gekommen sei, aber der sei auch schwer auf Zack gewesen und habe nicht lange gefackelt. Die Hummel hatte sich das freilich nicht lange angehört und war weitergesummt. Nun kam sie langsam wieder zu dem Menschen im Morast.

Der Schuh steckte fest. Und es war sehr schwierig, die Balance zu halten, in die Hocke zu gehen, das freie Bein hochzuhalten und gleichzeitig mit Kraft am feststeckenden Schuh zu zerren. Es war ein fast aussichtsloser Kampf, der jede Sekunde verloren gehen konnte.

Die ganze Sache war aussichtslos. Allein schon die Idee hierherzukommen war absurd. Es hatte seinen Grund, dass sie hier schon lange nicht mehr gewesen war. Der Morast erinnerte sich sehr gut daran und teilte ihr dies auch überdeutlich mit.

»Nostalgie? Ist es das, was du hier suchst?«, fragte sie sich selbst. »Hängst du den alten Zeiten nach? Was willst du hier?« Sie schimpfte herum, während sie an ihrem Schuh zog.

Alles, was vor ihr lag, war eine Ruine im Wald. Die Natur hatte sich große Teile der alten Gemäuer zurückerobert. In hundert Jahren wäre nichts mehr davon übrig. Und doch hatte der Ort immer noch den magischen Hauch eines uralten Versprechens.

»Und der Schrecken! Denk daran!«, ermahnte sie sich selbst. Sie wusste, dass sie gut daran tat, dies nur als ein Stück Wald mit einer Ruine anzusehen. Doch der Trotz in ihr war stark. Das hier war einmal viel mehr gewesen. Und es konnte immer noch mehr sein. Doch wenn sie nun schon an einem dämlichen Schuh im Morast scheiterte, was sollte sie dann erst in den alten Räumen? Wenn sie nicht einmal in der Lage war, über diese Wiese zu kommen, was würde dann die Ruine mit ihr anstellen? Sie war einfach nicht in der Verfassung, um sich mit diesem Ort schon wieder einzulassen.

Ein alter, längst vergessener Gedanke blitzte kurz in ihr auf. In einer umgestülpten Realität war sie umringt von dunklen Schatten und ihre erschrockenen Gesichter zerrissen zu grausigen Fratzen.

Sie schüttelte sich. Das war lange her. Es war längst vorbei und vergessen und doch lauerte es in ihrer Erinnerung und Vergangenheit und wartete nur darauf, sie anzuspringen. Es war nicht das, woran sie denken wollte, wenn sie diese Ruinen ansah. Aber es war auf fatale Weise damit verbunden. Wie ein Sumpf aus leidvollen Erinnerungen, der sie festzuhalten versuchte.

Die Hummel machte sich auf den Rückweg. Sie beschloss, ein wenig Abstand zu halten zu dem Menschen und auch ein wenig höher zu fliegen. Sicher war sicher. Plötzlich schoss etwas Großes dicht und schnell an ihr vorbei. Die Turbulenzen brachten die Hummel ins Schlingern.

Der Schuh war freigekommen, aber die enorme Kraftanstrengung hatte sich so plötzlich entladen, dass er dabei in hohem Bogen davongeflogen war. Nun lag er unerreichbar weit weg. Und sie steckte immer noch mit einem Bein im Morast fest. Die Lage war allmählich aussichtslos. Zumindest solange man nicht bereit war, sich mit Schlamm zu besudeln.

Die Hummel kämpfte derweil, um die avionische Kontrolle über ihren Flug zurückzuerlangen. In Hektik schrie sie sich selbst Kommandos zu. Das war sinnlos, aber beruhigte irgendwie ihre Nerven. Sie hatte einmal gesehen, dass Menschen das taten, wenn sie versuchten zu fliegen. Das hatte sie derart fasziniert, dass sie deren Verhalten immer wieder nachgespielt hatte. Nun waren die bedeutungslosen Floskeln und Phrasen die Routine, mit der sie sich zu beruhigen versuchte, während sie durch die Luft schlingerte.

»Landeklappen! Landeklappen! Vollen Schub. Oh verdammt! Wir schmieren ab! Zieh hoch, zieh hoch! Das Fahrwerk! Fahr das Fahrwerk ein! Was ist mit dem Schub? Vorsicht, wir kippen weg! Oh nein, du überziehst!«

Die diversen Blumen, die von der Hummel kurz zuvor beglückt und dann verlassen worden waren, verfolgten das Schauspiel interessiert. Bei dem Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen, war die Hummel zurück über das eben von ihr bestäubte Feld gedriftet. Nun fieberten die Blumen mit, ob die Hummel doch endlich abstürzen würde. Als langsam deutlich wurde, dass dies nicht passieren würde, begannen sie ihr wieder hinterherzuschimpfen.

Die Hummel sammelte sich langsam. Der Flug stabilisierte sich. Endlich war sie wieder im Vollbesitz ihrer fliegerischen Kräfte. Derartige Probleme hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Zuletzt war dies passiert, als sie von einem Forscher im Vorbeiflug gehört hatte, dass Hummeln wissenschaftlich betrachtet eigentlich gar nicht fliegen konnten. Das hatte die Hummel derart verunsichert, dass sie spontan ins Trudeln gekommen war und sich fortan nur noch mühsam in der Luft hatte halten können. Erst nach mehreren Therapiestunden war es ihr gelungen, ihr Selbstbewusstsein zurückzubekommen. Seither hatte sie beschlossen, sich von niemandem mehr so leicht etwas einreden zu lassen. Viel wichtiger war, wie sie die Welt und die Dinge sah und was sie daraus machen konnte.

Die Hummel hatte beschlossen, nicht noch einmal zurück über die Blumen und die seltsame Menschenfrau zu fliegen. Stattdessen steuerte sie auf die Ruinen zu. Vielleicht konnte sie dort auch noch ein paar hübsche Blümchen vernaschen. Wie schön wäre es, jetzt eine ganze Staude frischer dürstender Blüten zu finden, die sich von ihr …

Sie überflog ein paar Mauerreste und dahinter wogte ein riesiges Blütenmeer in der leichten Brise. Unglaublich! Und alle schrien die Hummel gleichzeitig an, dass sie bestäubt werden wollten. Es war kaum vorstellbar. Es war genau das, was sich die Hummel gerade gewünscht und vorgestellt hatte. Sie hatte es sich gewünscht und es war passiert. Einfach so. Wie ihr Therapeut immer gesagt hatte. Sie war mit sich im Gleichgewicht, stellte sich die Dinge vor und allein dadurch wurden aus den Gedanken konkrete Möglichkeiten. Wenn die Realität auch nur ein bisschen guter Dinge war, dann konnten sie sich manifestieren. Und hier schien die Realität extrem guter Dinge zu sein. Die Hummel stürzte sich in das Blütenmeer.

Die Frau stürzte sich in den Morast. Es war sinnlos geworden, sich noch dagegen zu wehren. Vorbehaltlos gab sie sich ihrem Schicksal hin. Erst hatte sie noch versucht, einen Ausfallschritt zu machen, und war mit der Socke in den Morast gestiegen. Dann hatte sie realisiert, dass sie das auch nicht weiterbrachte, und hatte sich dem ergeben, was unabwendbar schien. Nun saß sie mit dem Hintern im Morast und wartete ab, was wohl passieren würde.

Nichts geschah.

Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, einfach weiterzukrabbeln. Das wäre wohl die einzige Möglichkeit. Doch in welche Richtung sollte sie krabbeln? Einfach zurück? Weg von diesem Ort? Einfach aufgeben? Nach Hause gehen und sich dort vom Schlamm befreien? Oder sollte sie jetzt erst recht weiterkriechen? Jetzt, wo sowieso alles egal war? Was konnte sonst schon noch passieren?

Sie zögerte.

Sie versuchte in sich zu gehen. Was fühlte sie, was dachte sie? Was würde sich aus ihrem Unterbewusstsein und ihrer Überzeugung noch alles herauswagen? Alles, was passieren konnte, hatte sie längst bei sich. Die alles entscheidende Frage war, ob sie wirklich an diesen Ort zurückkehren wollte oder ob sie dazu gerade noch nicht bereit war. Der Morast war eigentlich ein eindeutiges Zeichen gewesen. Etwas hatte ihr überdeutlich mitgeteilt, dass es eine schlechte Idee war, an diesem Sonntagmorgen hierherzukommen. Vielleicht sollte sie auf sich und den Morast hören? Doch sie war unentschlossen. Es gab da auch etwas, was sie zurückzog. Wie eine Vorahnung, die sie schon einmal darauf vorbereiten wollte, dass sie bald wieder mehr Zeit hier verbringen könnte.

»Der Ort selbst hält mich fest und will mich nicht hergeben. Und ich wünsche mir diesen Morast, um weder fortgehen zu müssen noch näher heranzukommen. Der Morast ist die Unentschlossenheit und Ausweglosigkeit, in der ich zu versinken drohe«, haderte sie mit sich und ihrem Schicksal.

Sie strampelte und rollte herum. Sie widersetzte sich dem Morast in wilden Bewegungen. Wie ein wütendes Kind, das die Realität nicht akzeptieren will. Der Morast wurde zu einem dünnen Schlamm. Die Sauerei wurde dadurch noch größer und bald war sie über und über mit Schlamm beschmutzt. Sie arbeitete sich den Weg zurück. Nur weg von diesem Ort. Sie hätte es wissen sollen. Allmählich wurde der Weg fester und ihre Gedanken klarer.

Als sie aufsah, bemerkte sie die Gestalt eines Hundes, der auf seinem Hintern saß und ihr interessierte zusah. Sie blieb etwas schmollend stehend und musste dann grinsen.

»Natürlich machst du dir einen Spaß daraus, mir zuzusehen. Du hast es natürlich längst gewusst. Du weißt stets, was passierend wird und passierend könnte, nicht wahr? Sag mir, gibt es eine Möglichkeit, mit der ich trockenen Fußes zu den Ruinen und heil wieder herausgekommen wäre? Habe ich in irgendeiner Version dieser Geschichte meinen Sonntagsspaziergang erfolgreich beendet, ohne mich komplett mit Schlamm zu besudeln?«, fragte sie.

Doch der Hund blieb stumm. Er legte den Kopf leicht schrägt und sah sie weiter an, so als ob er seinerseits neugierig darauf wartete, was weiter passieren würde.

»Ist schon klar. Ich muss es selbst herausfinden«, murrte sie und ging langsam weiter, während sie versuchte, ihre Schuhe einigermaßen am Moos abzustreifen. Der Hund blieb einfach sitzen und blickte ihr nach.

Kein Hund

Ich bin kein Hund. Dieses Missverständnis möchte ich gleich ausräumen. Allerdings amüsiere ich mich gerne über die Verwirrung, die mit diesem Missverständnis oft einhergeht. Menschen gefällt es offenbar, mich als Hund zu sehen. Es hilft ihnen irgendwie. Ein Hund ist nichts Besonderes. Hunde trifft man an allen möglichen Orten. Als Begleiter von Menschen sind sie toleriert. Man muss sie nicht weiter beachten und die meisten sind gut genug erzogen, dass man sich nicht vor ihnen fürchten muss. Auch alleine herumstreunende Hunde fallen nicht unbedingt auf. In vielen Geschichten ist noch Raum für einen Hund. Ich finde das sehr angenehm und vorteilhaft. Es kommt meiner Gewohnheit entgegen.

Ich kenne viele Geschichten. Ich kann mich dennoch immer wieder darüber amüsieren. Ich liebe es, die schönsten Augenblicke immer wieder und in Tausenden neuen Varianten zu erleben. Viele Situationen bieten ein enormes Potenzial an Unterhaltung. Ich schätze Humor. Er ist mir wichtig. So wichtig wie gute Gespräche. Aber genug von mir. Kommen wir doch einmal zu Ihnen. Was hat Sie motiviert, diese Geschichte hier zu lesen?

»Meinen Sie mich?«, fragte eine Blume, die sich immer noch ziemlich durchgestäubt fühlte.

»Nein, eigentlich hatte ich … interessant. Eine amüsante Wendung der Dinge. Eine erfreuliche Überraschung. Ich habe nicht oft das Vergnügen, auf eine überraschende Wendung zu stoßen«, sagte der Hund.

Die Blume guckte verwirrt. Der Hund sprach in Rätseln.

»Meinten Sie nun mich oder nicht?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Nein, verehrte Centaurea cyanus. Ich muss gestehen, ich war mir Ihrer Anwesenheit eben gar nicht mehr bewusst.«

»Nun, aber mit wem haben Sie dann gesprochen? Ich habe Ihren inneren Monolog durchaus sehr deutlich vernommen. An wen war er gerichtet, wenn nicht an mich?«

»Er galt einem Leser, der uns gerade in diesem Augenblick beobachtet.«

»Ein was? Ein Laser? Ist das etwas Gefährliches? Oder ist das so einer von diesen Blumensammlern? Ein Pflücker?«, fragte die Blume entsetzt.

»Nichts dergleichen. Er beobachtet nur. Im Gegensatz zu mir pflegen sich Leser fast niemals in die Geschichten einzumischen, die sie lesen. Sie sind also weitgehend harmlos. Doch falls Sie sich leicht in Ihrer Privatsphäre gestört fühlen, kann ein Leser durchaus eine bemerkenswerte Störung darstellen.«

»Ach … ich meine, ich bin nur eine Kornblume mitten auf einer Lichtung im Wald. Da hat man ohnehin nicht viel Privatsphäre.«

»Dann haben Sie von einem Leser auch nichts zu befürchten.«

»Und was tun diese Lasser nun?«

»Sie betrachten sich alles. Sie beobachten und sie lauschen. Sie sehen uns zu, wie wir uns hier unterhalten.«

»Und warum tun sie das?«, fragte die Blume verwundert.

»Nun, entweder sie interessiert das, was sie beobachten, oder sie hoffen, dass bald etwas Spannendes passieren könnte. Dass ein UFO landet und die Erde von Außerirdischen besetzt wird oder ein Vulkan ausbricht, der die Stadt bedroht.«

Die Blume sah ihr Gegenüber sehr verwirrt an. Man konnte förmlich sehen, wie die Gedanken durch ihre Zellen rasten.

»Stadt? Es gibt eine Stadt? Etwa hier in der Nähe? Ich habe schon davon gehört, aber … Was ist ein Wulkahn? Ist das so ein … äh … Und Außenirische? Was sind Außenirische? Sind die aus …. äh … also … Und … und …. und was sind Uhlflos? Das habe ich ja noch nie gehört. Sind das so … äh … und … ist das … äh …. Und was sind jetzt noch mal genau Laser?«

»Der Leser beobachtet uns.«

»Und wo versteckt er sich? Ist er etwa unsichtbar? Ist es ein Gehspähn? Davon habe ich schon gehört! Die kommen gerne nachts!«

»Ach!«

»Ja ja! Diese Gehspähn kann man auch nicht sehen, so wie die Laser!«

»Wenn man sie doch nicht sehen kann, woher wissen Sie, ob sie existieren?«

»Hmmm. Man sagt so. Ich glaube, dass es sie gibt. Aber … hmmm. Ist es denn wichtig, ob man sie sehen kann? Ist es wichtig, ob man daran glaubt? Kann es sie etwa nur geben, wenn man an sie glaubt?«

»Eine gute Frage, liebe Blume. Besonders hier an diesem Ort! Doch Angst sollten Sie keine haben. Wenn Sie sich nicht fürchten, werden sie ihnen auch nichts tun.«

»Und wenn doch? Landen dann diese Uhlflos?«

»Nein, ich denke, das ist eher unwahrscheinlich.«

»Doch, woher wollen Sie es denn wissen, wenn Sie sie doch nicht sehen können!«

»Ich habe einige Geschichten gelesen, in denen sie nicht gelandet sind. Aber ganz sicher sagen kann ich es auch nicht. Wenn Sie es sich fest genug wünschen, vielleicht passiert es dann doch!«

»Aha! O. k., ich werde mal darüber nachdenken«, sagte die Blume und versankt dann in Gedanken. Es entstand eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.

»Diese Uhlflos, sind die genauso wie diese blöde Hummel?«

»Oh nein, die sind viel schlimmer. Was die mit Ihnen machen, wollen Sie gar nicht wissen!«

»Herrje! Nein, dann will ich nicht, dass die landen! Da wünsch ich mir lieber was anderes. Vielleicht ein hübsches kleines Schloos. Ich habe mal von so was gehört. Es soll sehr hübsch sein, sagte mir eine Krähe. Oder war es der Bussard, der die Maus fraß, die mich fressen wollte? Ich weiß es nicht mehr. Ach, sagen Sie, ist heute nicht ein schöner Tag?«

»Doch, doch, durchaus!«

Diese einfältigen Blumen. Manchmal strengt mich die Unterhaltung mit ihnen an.

»Hey! Ich kann das hören!«, beschwerte sich die Blume.

Oh! Nichts für ungut. Aber wie Sie das anstellen, würde mich dann doch einmal interessieren.

»Das denke ich mir«, grinste die Blume. »Doch auch wir Blumen müssen unsere kleinen Geheimnisse haben, nicht wahr?«

Kein Bibliothekar

»Manchmal frage ich mich, was Sie eigentlich sind!«, brüllte ihn ein kleiner, dürrer Mann an, der aussah, als sei er gerade erst seiner Gruft entstiegen, in der er die letzten fünfhundert Jahre zugebracht hatte. Was dieser Mann war, fragte sich der Bibliothekar auch oft genug, doch er schrie diese Frage nicht so unumwunden heraus, denn offiziell war dies immer noch sein Chef.

»Ein Bibliothekar sind Sie ja wohl schon mal nicht, oder?«, brüllte der Chef weiter.

Der Bibliothekar nickte andächtig, während er schweigend vor ihm stand. Irgendwann hatte er herausgefunden, dass diese leichte Wippbewegung ihn bei den cholerischen Ausbrüchen seines Chefs beruhigte und dem Chef keine zusätzlichen Vorwände bot, um ihn noch länger anzubrüllen. Gleichzeitig konnte man bei dieser Wippbewegung sehr gut abschalten. Die lauten Worte, das zunehmend rote Gesicht und die feuchte Aussprache bemerkte man dann kaum noch. Man konnte sich in eine andere Welt begeben. Weit weg. In ein anderes Leben. Über allem schweben. Oder hoch droben auf einem Turm. Ein eigenes kleines Schloss, versteckt im Wald. Weit genug weg wenigstens, damit einen diese unangenehme Person nicht länger zu belästigen vermochte. Seine Worte drangen nur noch ganz entfernt zu ihm, wie aus einer anderen Realität.

»Es ist unglaublich. Sie sind doch kein Leser! Sie sind Bibliothekar!«

Michael nickte nur. Es war sehr wichtig, ab und an zu nicken, wenn sein Chef ihm etwas mitteilen wollte. Das gab seinem Chef und Michael, das Gefühl, dass alles in Ordnung war. Es ging niemals darum, was wirklich gesprochen wurde. Es ging stets nur um das Gefühl. Sein Chef fühlte sich schlecht und es ging ihm besser, wenn er herumschrie und Michael dazu schwieg und nickte. Dem Bibliothekar war es vorher eigentlich besser gegangen, aber wenn er nur genug nickte, dann konnte er es vermeiden, sich allzu schlecht zu fühlen.

»Sie können doch nicht den ganzen Tag lesen! Sie sind Bibliothekar. Was interessiert Sie denn der Inhalt der Bücher? Stellen Sie sich doch einfach vor, es wären Backsteine, wenn Ihnen das hilft. Die richtigen Bücher in die richtigen Regale. Dazu müssen Sie nicht drin lesen. Und zum Abstauben müssen Sie auch nicht lesen. Wissen Sie eigentlich, wie viel es hier zu tun gibt? Und sie haben mir noch mal die Mittel gekürzt. Immer kürzen sie die Mittel. Immer sagen sie, dass man eben fleißiger sein muss und dass es bisher doch auch funktioniert hat. Wissen Sie, wie das ist? Und dann erwartet man von mir, dass alles immer ordentlich ist. Und da sitzen Sie einfach da und lesen in diesen Dingern? Sind Sie noch zu retten, Mann? Herrje, ich wünschte, Sie wären Analphabet. Ich sollte Sie entlassen und durch jemand ersetzen, der keine Ahnung hat, wie man liest. Aber nein, das geht ja auch nicht. Dann müsste ich ja überall Bildchen draufmalen. Ein Roboter, das wäre es. Ein Roboter würde nicht sinnlos herumlesen. Er würde nur sortieren und Staub wischen. Sie sind schuld, wenn wir mal alle durch Roboter ersetzt werden. Sie sind schuld, wenn jemand merkt, dass wir ineffizient sind. Roboter können Ihren Job viel besser, wissen Sie das? Sie sind blöder als ein Roboter. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.«

Er nickte die ganze Zeit andächtig. Er dachte an eine Villa in einer ruhigen Lage. Genug Platz, um ein paar Gedanken freien Lauf zu lassen. Irgendwas Nützliches. Vielleicht ein Buch lesen. Vielleicht einfach einmal die Musik laut aufdrehen. Das alles passte ja gar nicht zu ihm. Er war anständig und er war gewissenhaft. Da durfte man sich keine Ausschweifungen erlauben. Vielleicht sollte er heute Abend einfach auf einen Spielplatz gehen. Dann, wenn es dunkel war und niemand ihn sehen konnte. Er würde sich in einen der Sandkästen schleichen und dort ein paar Sandburgen bauen. Tagsüber ging das nicht. Er hatte es einmal versucht, nachdem ihn sein Chef geschlagene zwei Stunden angeschrien hatte. Zunächst hatten ihn alle ignoriert. Die Kinder fanden ihn wohl nur seltsam, aber sie hätten sich wohl an ihn gewöhnt. Das Problem jedoch waren die Mütter und Väter, die dabei waren. Sie hatten ihn von Beginn an genau beobachtet und ihre Kinder von ihm weggezogen. Einige hatten den Spielplatz auch fluchtartig verlassen. Andere stellten sich demonstrativ um ihn und seine Sandburg herum. Sie deuteten darauf und fragten laut, was das solle. Er hatte ihnen erklärt, dass das Türme seien, weil eine gute Stadt Türme brauche und auch eine Bibliothek. Einer hatte wissen wollen, warum er das mache. Er hatte erklärt, dass die Türme für die Engel seien. Da hatten sie ihn gepackt und davongezerrt. Einer hatte die Polizei gerufen. Die hatte ihn in ein Haus gebracht, in dem seltsame freundliche Menschen gewesen waren. Er hatte bunte Pillen schlucken müssen und sich sehr seltsam gefühlt. Nach einer Weile hatte man ihn gehen lassen. Seither hatte er es vermieden, tagsüber auf Spielplätze zu gehen.

Doch wenn er eine Villa in der Einsamkeit hätte, dann könnte er dort einen eigenen großen Sandkasten haben. Und niemand würde ihm dumme Fragen stellen. Niemand dürfte ihn einfach so wegzerren oder seine Sandburg kaputt machen. Und er bräuchte niemandem zu erklären, wozu die Türme waren, wenn er nicht wollte.

Er nickte. Sein Chef schrie immer noch. Es ging irgendwie immer noch darum, dass sie effizienter werden mussten. Es wurde nicht ganz klar, ob es Teil der Effizienz wäre, wenn sie hier so lange standen und sich gut zu fühlen versuchten. Aber das alles war ohnehin schwer zu verstehen.

Manchmal dachte er sich, dass er hier einfach nicht hingehörte. Dass er sich nur verlaufen hätte. Dass er jemand ganz anderes war, der nur zufällig kurz in die Bibliothek gegangen war und dem man dann erklärt hatte, dass er ein Bibliothekar sei. Und er hatte es geglaubt. Hatte vergessen, wer er wirklich war. Wie ein adoptiertes Kind, das in seiner neuen Familie unglücklich ist und irgendwann herausfindet, dass es hier nicht hingehört. Das wäre schön. Ein schöner Traum. Doch wenn er kein Bibliothekar war, was war er dann? War er vielleicht doch einfach ein Leser?

Er nickte. Man durfte nicht vergessen zu nicken. Man durfte auch nicht einschlafen. Man durfte nicht einmal länger die Augen zumachen. Aber es war wichtig, ab und an zu blinzeln, sonst begann man zu weinen und dann wurde das Geschrei noch lauter. Man durfte auch nicht auf die Uhr sehen, denn sonst wurde noch länger über Effizienz gesprochen. Man durfte eigentlich nichts außer schweigend dastehen und nicken und ab und an einmal blinzeln.

Der Bibliothekar stellte sich vor, dass die Bibliothek plötzlich dunkel wurde und ein paar Dämonen herumflatterten. Das würde seinem Chef bestimmt Angst machen. Vermutlich könnte man ihm sehr leicht Angst machen. Doch vermutlich war das mit vielen Menschen so. Sie hatten ja auch Angst, wenn er Türme aus Sand baute. Langsam tat ihm alles weh. Es war sehr anstrengend, so lange Zeit zu stehen und sich nicht zu bewegen. Aber er kam immer besser in Übung.

Doch allmählich brauchte er eine Gelegenheit, sich einmal die Beine zu vertreten und ein stilles Örtchen zu besuchen. Er durfte das nicht einfach so erwähnen, denn das wäre sicher kontraproduktiv. Es war nicht effizient. Ohne die Augen zu sehr zu bewegen, versuchte er eine Chance zu erblicken. Und endlich sah er etwas. Es war ein Leser, der es tatsächlich wagte, in der Bibliothek etwas zu essen. Es war sicher nur ein trockener Keks. Nichts, was einem robusten Buch gefährlich werden könnte. Doch es war die Chance, um seinen Chef abzulenken. Der Bibliothekar riss seine Augen so weit wie möglich auf und starrte auf den Keks. Sein Chef brauchte ein wenig, bis er das realisierte, sah dann jedoch verwundert hinüber und erstarrte. Er drehte sich noch einmal kurz um, zögerte und holte Luft. Der Bibliothekar betete, dass der Keks ihm nicht egal wäre. Dann sprang sein Chef los, um den verdammten Keksesser aus der Bibliothek zu werfen und ihm ein paar Grundregeln zu erklären.

Der Bibliothekar rührte sich nicht. Er wusste genau, dass sein Chef noch einmal zu ihm herübersehen würde. So lange musste er unterwürfig und gehorsam stehen bleiben. Erst als er außer Sichtweite war, fielen die Schultern des Bibliothekars herunter und er seufzte. Er nahm einen Wagen mit Büchern, fuhr damit um ein paar Ecken, griff dann einige Bücher wahllos heraus und ging in das nächste Stockwerk. Hier gab es einen Übergang in einen kleinen abgeschiedenen Teil der Bibliothek. Dort ging er zwei weitere Stockwerke hinauf, dann an einer langen Reihe von Regalen entlang. Am Vorletzten bog er ein. Hinten zwängte er sich um eine Säule herum und kam zu einer kleinen Wendeltreppe, die er zwei Stockwerke hinunterging. Dann weiter, zwischen ein paar Bücherregalen hindurch und dann noch mal eine sehr kleine Wendeltreppe hinunter. Hier schlich er im Halbdunkeln um ein paar weitere enge Bücherregale und kam in einen kleinen Raum, der ganz von alten Büchern umschlossen war. Der Bibliothekar war fest davon überzeugt, dass sein Chef noch niemals so weit vorgedrungen war. Hier setzte er sich an einen kleinen Tisch und begann wieder zu lesen. Schließlich sollte sich der ausführliche Vortrag über Effizienz auch lohnen.

Kein Zwilling

Niemandem war die graue Metalltür vorher aufgefallen. Es war eine von vielen Türen, die die meiste Zeit ungenutzt blieben und zu irgendwelchen Betriebsräumen führten. Sie waren abgesperrt und die meisten Menschen blendeten sie einfach so aus. Wenn man nicht hindurchgehen konnte, dann brauchte es einen schließlich auch nicht zu interessieren. Es ging auch sonst niemand hindurch und niemand wusste, was dahinter war. Vielleicht gab es dahinter einfach nichts. Es war eigentlich nicht wichtig. Es existierte nicht in der Vorstellung der Menschen und damit verschwand es aus dem Bewusstsein der Gesellschaft. Türen in U-Bahnhöfen, in öffentlichen Gebäuden und Theatern, in Mehrfamilienhäusern und Tiefgaragen. Es waren nur irgendwelche Türen, so wie Gullideckel nur Gullideckel und Lüftungsgitter nur Lüftungsgitter waren. Genauso hätte man sich fragen können, woher der Strom aus der Steckdose kam. Niemand interessierte sich dafür. Die Türen waren wie Wand. Die Gullideckel waren wie Boden. Aber man konnte Plakate auf die Türen kleben. Man konnte Dinge davorstellen oder sich daran anlehnen. Das machte sie ein wenig nützlich. Ebenso nützlich wie ein Stück Wand.

Manche Leute mochten mehr darin sehen. Manche Leute mochten eingeweiht sein und wissen, was sich hinter den Türen befand, wie man sie öffnen konnte und wozu man hineingehen könnte. Aber alle anderen interessierte es nicht. Genauso könnte man irgendwelchen verstaubten Geheimnissen nachlaufen und versuchen, irgendwelche Ruinen im Urwald zu finden. Man könnte alten Geheimnissen in Büchern nachjagen oder versuchen zu ergründen, wer man in seinem früheren Leben einmal gewesen sein mochte. Man könnte sich auch fragen, welcher Aufgabe ein Fremder auf der Straße täglich nachging und welche Probleme er dabei hatte. Es waren Dinge, die außerhalb der eigenen Welt lagen. Man blendete sie aus, damit man nicht verrückt wurde. Man machte seine eigene Welt klein und übersichtlich, damit man darin alles in Ordnung halten konnte und sich wohlzufühlen vermochte.

Es war ein Vorhang, den man vorzog, damit nicht zu viel von der Welt dort draußen zu der kleinen Welt in einem durchdrang. Man wollte nichts wissen von Atomen, nichts von Millionen von Kilometern entfernten Sternen. Man wollte nicht verstehen, wie ein Computer funktioniert. Man wollte nicht wissen, wer unter welchen Lebensbedingungen in welchem fremdem Land die Dinge des täglichen Gebrauchs für einen herstellte. Man wollte nicht wissen, über welche Technik und welche komplizierten Formeln das Gerät im Fahrzeug wusste, wo man abbiegen musste. Man blendete es aus. Man sah weg.

Und wenn es einen doch traf, weil etwas nicht funktionierte, wie es sollte, dann reagierte man verstört. Die Welt geriet in Unordnung. Etwas Unbekanntes von einer äußeren Welt versuchte in die innere Welt einzudringen. Es brachte die wohlgehütete Ordnung durcheinander. Das war unfein und so reagierten viele Menschen auch sehr ungehalten. Sie versuchten dem Ungewohnten auszuweichen, es zu ignorieren und wegzureden. Sie liefen davon. Doch wenn einen das Ding aus der äußeren Welt verfolgte, wenn sich ein Problem an einem festbiss und einen nicht mehr loslassen wollte, dann musste man reagieren. Man konnte versuchen, das Problem wegzureden, es zu verscheuchen oder es jemand anderem auf den Hals zu schicken. Man konnte behaupten, es würde nicht existieren. Doch manche Dinge blieben hartnäckig.

Die Metalltür gehörte nicht direkt dazu. Die meisten Menschen konnten sie erfolgreich ignorieren, selbst als sie sich plötzlich öffnete. Man beachtete sie nicht. Es war egal, was dort war oder wer dort herauskam. Doch einem Mann, der gerade davorgestanden hatte, gelang es nicht, sie zu ignorieren. Er wurde von ihr hart in den Rücken getroffen und sprang entsetzt weg. Der Schmerz in seinem Rücken war ebenso schwer zu ignorieren und wollte auch nicht verschwinden. Eben noch war alles in bester Ordnung gewesen. In der Vorstellung hatte keine Tür existiert. Und plötzlich war sie in Erscheinung getreten und hatte sich schmerzhaft in seinen Rücken gebohrt. Aus der sich öffnenden Tür trat ein Mann, der aussah, als wäre er gerade von einer langen Expedition zurückgekehrt. Er trug Outdoorbekleidung und einen großen Rucksack.

Der Mann, der vor der Tür gestanden hatte, sah ihn fassungslos an. Er konnte die Erscheinung nicht in seine kleine Welt einsortieren und beschloss, sie zu ignorieren. Um weiterem Ungemach zu entgehen, ging er kopfschüttelnd davon.

Der Mann mit dem Rucksack trat aus der Tür und schloss sie sorgfältig hinter sich. Er ging aufmerksam die Straße entlang und sah sich dabei in alle Richtungen um. Es wirkte fast so, als wäre er durch ein großes Höhlensystem gewandert und frage sich nun, in welcher Stadt oder welchem Land er gelandet sein mochte. An einem Kiosk blieb er stehen. Er studierte die verschiedenen Zeitungen und Magazine. Der Kioskbesitzer studierte den Mann. Er ignorierte ihn nicht, denn er wirkte, als könnte er ein Kunde sein und Kunden ignorierte man nicht. Sie gehörten zur Ordnung eines Kiosk. Nur wenn ab und an Kunden vorbeikamen, war die kleine Welt des Kioskbesitzers in Ordnung. Doch bei diesem Mann konnte man nicht sicher sein. Es gab Kunden, die wussten sofort, was sie wollten, griffen danach oder verlangten es, bezahlten und gingen. Es gab auch Kunden, die sich zuerst umsahen und dann fragten, welche Magazine es zu einem gewissen Thema gab. Manche kauften dann etwas, andere nicht. Und es gab Kunden, die in aller Ruhe alle Titelbilder ansahen, die Überschriften und Einleitungen lasen und oft genug sogar in den Magazinen und Zeitungen blätterten und schmökerten. Am Ende war ihr Informationsbedarf gestillt und sie gingen davon, ohne etwas zu kaufen. Dann waren es keine Kunden, sondern kleine blöde Schmarotzer und die passten einfach nicht in die heile kleine Welt des Kioskbesitzers. Bei diesem Mann mit Rucksack konnte es sich um solch einen unliebsamen Gast handeln. Und deshalb beobachtete ihn der Kioskbesitzer ganz genau, jedoch ohne seine Gedanken zu erkennen zu geben, nur für den Fall, dass es vielleicht doch ein Kunde war.

Schließlich fragte ihn der Kioskbesitzer, ob er ihm denn vielleicht helfen könne. Der Mann mit dem Rucksack sah ihn freundlich, aber verständnislos an. Dann fragte er ihn etwas, an das der Kioskbesitzer inzwischen gewöhnt war, aber das er dennoch nicht leiden konnte.

»Wo sind die Berichte über dieses spektakuläre Gelände draußen vor der Stadt?«

Der Kioskbesitzer, sah ihn befremdet an. Immer wollten die Leute Dinge von ihm wissen, die er nicht wissen konnte. Immer sprachen sie von etwas, das ihrer kleinen Welt entsprang und das nur sie kannten. Einer fragte nach Neuigkeiten zu einer Musikrichtung, von der der Kioskbesitzer noch niemals gehört hatte. Ein anderer suchte eine Zeitschrift über orthogonale Kunst. Der nächste suchte ein Magazin über Lobbydumping. Es war alles kryptisch und gänzlich uninteressant für den Kioskbesitzer. Dennoch sollte er sofort Bescheid wissen.

Er seufzte. Keine Ahnung, was der Fremde mit dem Rucksack von ihm wollte. Er konnte ihm ein paar Outdoormagazine empfehlen. Seiner Kleidung nach sah er so aus, als ob ihn das interessieren könnte. Der Kioskbesitzer überlegte noch, als der Fremde plötzlich weitersprach.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße John Doe. Ich bin auf Besuch hier und versuche mich ein wenig zu informieren. Ich habe gehört, es gebe hier eine kleine Sensation vor den Toren ihrer Stadt. Sie haben nicht zufällig etwas davon gehört?«

»Eine Sensation?«, fragte der Kioskbesitzer langsam und ohne jeden Anflug von Verständnis. »Welche Art von Sensation könnte das sein?«

»Ein Vergnügungspark. Ein Tempel. Eine Kirche. Ein illegales Wohnprojekt. Ein Zufluchtsort einer Sekte. Ein Geheimprojekt. Ein militärischer Sicherheitsbereich. Eine Anomalie im Raum-Zeit-Gefüge. Ein Wallfahrtsort. Ein Ort, an dem ein Aufstand stattgefunden hat. Ein Versteck von Verbrechern, das ausgehoben wurde. Ein verwunschener verbotener Wald. Ein Areal, das verschwunden ist. Ein Ort, an dem Leute verschwinden, wie im Bermudadreieck. Ein Weltwunder. Ein Pilgerort. Eine Sehenswürdigkeit. Ein Ort, an dem es Hexen gibt. Ein Ort, an dem eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung steht. Ein Camp im Wald. Eine große Party. Ein Naturerlebnispark. Ein …«

Der Kioskbesitzer hatte bis zu diesem Zeitpunkt geduldig zugehört. Die Kette der Worte und Bilder in seinem Kopf war scheinbar endlos an ihm vorbeigezogen, ohne dass er mehr verstanden hätte. Der Fremde redete in Rätseln. Der Kioskbesitzer beschloss, das abzukürzen.

»Ich habe hier einen Stadtplan und die gelben Seiten. Damit lässt sich einiges bewerkstelligen. Sie können sich auch einen Internetzugang bei mir kaufen. Dann können Sie weiterrecherchieren. Es gibt auch diesen wunderbaren Führer zu touristischen Attraktionen rund um unsere schöne Stadt. Dort sollte sich einiges finden lassen. Und vielleicht nehmen Sie einfach noch ein paar Magazine über Outdoorsport und alternative Lebensweisen und Metaphysik mit, dann werden Sie bestimmt etwas für Sie Passendes entdecken.«

Der Fremde hatte innegehalten und sah den Kioskbesitzer verwirrt an.

»Und so einen Ort kennen Sie nicht? Sie haben von nichts dergleichen gehört bisher?«

»Nein, mein Herr. Keine Ahnung, wer Sie sind und was Sie wollen.«

»Du bist ein wenig zu früh dran«, sagte auf einmal eine andere Stimme. Der Kioskbesitzer konnte nicht sehen, woher die Stimme kam. Durch seine kleine Luke zwischen den ganzen Magazinen und Tageszeitungen hatte er nur eine eingeschränkte Sicht auf die Welt. So viele Informationen. So viele Berichte aus aller Welt, die ihn umgaben. Und doch verstellten sie ihm den Blick auf das, was um ihn herum vor sich ging.

Der Fremde drehte seinen Kopf zur Seite und seine Miene veränderte sich, als ob er überraschend einen alten Freund wiedersah, mit dem er hier nicht gerechnet hatte. Dann ging er davon, drehte sich noch einmal kurz um, sagte dem Kioskbesitzer Lebewohl und verschwand aus dessen Sichtfeld. Kurz darauf tauchte er auf der anderen Straßenseite wieder auf, während er langsam davonging. Neben ihm ging ein Hund.

Kein Ende

Am Ende darf ich mich auch noch kurz zu Wort melden. Dabei ist dies eigentlich gar kein Ende. Doch wo ist schon das Ende oder der Anfang einer Geschichte? Stets gibt es eine Geschichte vor der Geschichte. Stets gibt es etwas, was man danach erzählen könnte. Immer bleiben viele Dinge unerwähnt, sodass man statt einer Geschichte deren viele erzählen könnte. Auch jede Geschichte könnte man in Tausenden von Varianten erzählen. Immer kann man der Frage nachgehen, was wohl geschehen wäre, wenn etwas anders verlaufen wäre. Immer kann man erneut das aufrollen, was so klar schien, nur um ihm im entscheidenden Augenblick eine neue Wendung zu geben. Jede Geschichte ist eine beliebige Auswahl von Dingen aus dieser unüberschaubaren Vielzahl an Situationen und Ereignissen, Eindrücken und Ansichten. Dieselbe Situation kann auf völlig verschiedene Weise betrachtet werden. Unsere Gedanken können uns eine eigene Geschichte erzählen. Durch all das wandeln wir wie in einem Labyrinth.

Der Geschichtenerzähler wird zum Fremdenführer in diesem Durcheinander. Der Autor wird zum Pionier, der eine Route für seine Leser markiert. Ein Buch zu lesen heißt, eine Geschichte zu durchwandern auf dem Pfad, den der Autor für seine Leser vorgesehen hat. Es gibt Schlenker, es gibt einzelne Etappen, es gibt Übersichtskarten und Namen für die einzelnen Orte und Abschnitte, die man durchreist. Manchmal führt einen der Weg immer wieder in die Nähe derselben Szenerien, nur damit man sie noch einmal aus einem anderen Blickwinkel erleben kann. Manche Bücher führen einen an einem beschaulichen Panoramaweg entlang, der etwas langweilig wirkt. Andere sind harte Bergetappen, bei denen man häufig die Richtung wechselt und sich eine sensationelle Sehenswürdigkeit an die nächste reiht. Es gibt sogar Bücher, die lassen einem die Wahl, welchen Weg man gehen möchte. Manche Buchreihen beschreiben dieselbe Reise, aber durchwandern ein Gebirge auf verschiedenen Wegen, während sie dieselben Zwischenstationen ansteuern.

Ein Buch ist somit eine Reise. Der Autor ist der Reiseleiter. Als Leser ist man Mitglied einer Reisegruppe. Seine Mitreisenden bekommt man dabei nur selten zu sehen. Und sie leben in unterschiedlichen Zeiten. Dort, wo man sich gerade im Buch und auf der Reise befindet, war ein Mitreisender vielleicht schon vor Jahren, ein anderer wird erst viel später dorthin kommen. Und doch sind es alles Reisebegleiter, die ein gemeinsames Erlebnis miteinander teilen. Man kann sogar sein eigenes früheres Ich auf der Reise begleiten, indem man noch einmal dasselbe Buch liest wie schon in seiner Jugend. Man begleitet sein früheres Ich auf derselben Reise und beobachtet noch einmal die Gedanken, die man bereits vor einer langen Zeit einmal gehabt hatte. Und man kann niemals so genau wissen, ob nicht auch ein späteres Ich zu den Reisebegleitern gehört.

Vielleicht liest du diesen Text in einigen Monaten oder vielen Jahren noch einmal. Dann, wenn du weißt, wohin der Weg dich weitergeführt hat. Du wirst ihn erneut lesen und die ganze Reise wieder vor Augen haben. Du wirst dich daran erinnern, wie viel jünger und unerfahrener du warst, als du diesen Text zum ersten Mal gelesen hast. Und jetzt, da du ihn zum ersten Mal liest, fragst du dich, wohin die Reise weitergehen wird. Was wird noch alles kommen? An was wirst du dich dann, wenn du erneut hierher zurückkommst, alles erinnern? Und du wirst dich fragen, ob es wirklich derselbe Text ist. Ist noch alles so, wie in deiner Erinnerung? Ist es immer noch derselbe Weg oder ist es ein anderer? Hast du ihn wirklich so in Erinnerung oder hast am Ende nur du dich und dein Blick darauf sich gewandelt?

Wie eine Rückkehr zum Ausgangspunkt einer langen Reise. Es wird seltsam sein. Denn du wirst dir selbst begegnen. Und du wirst dir wünschen, noch einmal so ohne jede Vorahnung auf die Reise gehen zu können. Noch einmal alles als neu erleben zu können. Doch dafür wirst du beim zweiten Mal dich selbst zum ersten Mal erleben.

Und du begegnest all den Leuten, die dir von ihrer Reise erzählt haben. Du kannst dich an das erinnern, was sie berichteten. Du spürst sie nahe bei dir, wenn du die Dinge entdeckst, die sie vor dir entdeckt haben. Und du wirst bei ihnen sein, wenn sie auf den Wegen wandeln, die du vor ihnen beschritten hast. Diese unsichtbare Reisegesellschaft suchst du dir selbst mit aus. Es liegt an dir, wen du alles auf diese Reise mit einladen willst. Alles, was du tun musst, ist, jemandem diese Geschichte in die Hand zu drücken.

Und doch ist dies nur der Auftakt zu einer viel größeren Reise, die wieder nur Teil einer größeren Reise ist. Viele Wege, viele Abzweigungen, weite Strecken, viele Orte und immer neue Perspektiven. Dies war bisher nur ein kleiner Ausflug. Eine kleine Wanderung, um zu sehen, ob man weitergehen will, ob die Schuhe bequem sind und man mit dem Rucksack zurechtkommt. Wenn du das alles so weit überprüft hast, dann wird es Zeit für die nächste Etappe.

Es wird keine Reise ohne Wiederkehr sein. Der nächste Zwischenstopp wird in Sichtweite liegen und doch wird die Reise schon viele Stunden dauern, vielleicht auch etliche Tage. Es hängt von deiner Reisegeschwindigkeit ab. Wir haben keine steile Bergetappe vor uns. Und es drohen keine existenziellen Gefahren. Wir müssen nicht vom ersten Moment an die Welt retten. Doch es wird ein beschaulicher Ausflug zu Orten, von denen du noch nicht ahnst, dass sie existieren könnten. Ich als Autor werde dir einiges zeigen, was du bisher noch nicht kanntest. Nach einer Weile wirst du dich erneut fragen müssen, ob du weitergehen willst. Du kannst dir stets aussuchen, ob du die Reise abbrichst oder sie fortsetzt. Du kannst eine Weile ausharren und später weitergehen oder von einem Ziel zum nächsten eilen. Wir werden uns langsam steigern. Zunächst wirst du die Gefahren gar nicht bemerken, doch früher als es dir lieb ist, wirst du realisieren, dass die Bedrohung längst existiert und allgegenwärtig ist. Und vieles von dem, was droht, kommt aus dem, was dir längst schon vertraut ist. Nicht das Neue wird dir Sorgen bereiten, sondern das, was du längst als gegeben akzeptiert hast.

Es klingt seltsam, wenn du es zum ersten Mal liest. Doch wenn du am Ende der Reise hierher zurückkehren wirst, wird dir vieles klar werden und du wirst dafür viele neue Fragen haben. Glaube mir, ich bin dein Reiseleiter. Ich war hier schon oft und doch ist es jedes Mal wieder neu und spannend für mich, wenn ich spüre, wie du das entdeckst, was mir längst vertraut erscheint.

Denn das hier ist nicht das Ende. Ich habe dich geführt bis zu einer Tür, durch die du nun gehen kannst, wenn du das möchtest. Dahinter liegt ein langer Weg, der in der Dunkelheit der Möglichkeiten verschwindet. Neben dem Weg siehst du Orte, Menschen, seltsame Gestalten. Eine Katze springt herum und auch einige Hunde, wobei du beim besten Willen nicht sagen kannst, wie viele es sind. Gleich hier im Türstock hat eine kleine Spinne ihr Netz. Und dahinter siehst du ein Wartehäuschen mit einer kleinen Bank. Ein Wartehäuschen, von dem aus eine lange Reise beginnen kann …

… so geht es weiter …

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Das Buch der Welten